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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Kopfnicken, die drei Männer zu vergessen und mit la Gorda über die Brücke zu Silvio Manuel zu gehen.
    Wir gingen hinüber. Silvio Manuel und Eligio, so schien es, hielten die Seiten eines senkrechten, etwa mannshohen Schlitzes fest. Die Frauen rannten herbei und versteckten sich hinter la Gorda. Silvio Manuel forderte uns auf, durch die Öffnung zu treten . Ich gehorchte ihm. Die Frauen nicht. Hinter jenem Eingang war nichts. Und doch war er bis zum Rand erfüllt von etwas, das nichts war. Meine Augen waren offen; alle meine Sinne waren wach. Ich strengte mich an, nach vorne zu sehen. Aber da gab es nichts vor mir. Oder, falls es da etwas gab, konnte ich es nicht erfassen. Meine Sinne gehorchten nicht jener Arbeitsteilung, die ich als sinnvoll zu betrachten gelernt hatte. Alles stürzte gleichzeitig auf mich ein, oder besser gesagt, das Nichts stürzte auf mich ein, wie ich es niemals vorher oder nachher erlebt hatte. Ich hatte das Gefühl, als würde mein Körper entzweigerissen. Eine Kraft aus meinem Innern drängte hinaus. Ich zerbarst, und nicht nur bildlich gesprochen. Auf einmal spürte ich eine menschliche Hand, die mich fortriss, bevor ich mich auflöste.
    Die Nagual = Frau war herbeigeeilt und hatte mich gerettet. Eligio hatte sich nicht von der Stelle rühren können, weil er den Spalt offenhielt, und Silvio Manuel mußte die vier Frauen an den Haaren festhalten, zwei an jeder Hand, um sie hineinzuschleudern.
    Das ganze Ereignis, so nehme ich an, mochte etwa eine Viertelstunde andauern, aber in dieser ganzen Zeit fiel mir niemals ein, mir Gedanken wegen der anderen Leute bei der Brücke zu machen. Irgendwie schien die Zeit stillzustehen, ähnlich wie sie wieder stillstand, als wir dann auf unserem Weg nach Mexico City an dieser Brücke vorbeikamen.
    Obwohl der Versuch gescheitert zu sein schien, behauptete Silvio Manuel, daß er ein voller Erfolg war. Die Frauen hatten tatsächlich die Öffnung gesehen - und durch sie hindurch in die andere Welt. Und was ich dort erlebt hatte, war ein echtes Gefühl des Todes.
    »Am Tod gibt es nichts Schreckliches oder Friedvolles«, sagte er. »Denn der wahre Schrecken beginnt beim Sterben. Mit jener unberechenbaren Gewalt, die du dort drinnen spürtest, wird der Adler jedes Flämmchen der Bewußtheit, das du jemals hattest, aus dir herauspressen.«
    Silvio Manuel bereitete nun la Gorda und mich auf einen neuen Versuch vor. Solche Plätze der Kraft, so erklärte er, seien in Wirklichkeit Löcher in einer Art Baldachin, der die Welt davor bewahre, ihre Form zu verlieren. Man könne einen Platz der Kraft nutzen, wenn man in der zweiten Aufmerksamkeit genügend Stärke angesammelt habe.
    Um die Gegenwart des Adlers zu ertragen, so sagte er, komme es einzig auf die Stärke der eigenen Absicht an. Ohne Absicht gebe es nichts. Da ich als einziger in die andere Welt eingetreten sei, so sagte er mir, habe mich meine Unfähigkeit, meine Absicht zu verändern, beinah getötet. Er war aber zuversichtlich, daß es durch angestrengte Übung uns allen gelingen werde, unsere Absicht zu erweitern. Allerdings konnte er nicht erklären, was Absicht eigentlich sei. Im Scherz meinte er, nur der Nagual Juan Matus könne dies erklären, aber der sei leider nicht da.
    Unglücklicherweise kam es aber nicht zu einem erneuten Versuch, denn mir ging die Energie aus. Es war ein rascher, verheerender Verlust an Lebenskraft. Ich war auf einmal so schwach, daß ich in Silvio Manuels Haus ohnmächtig wurde.
    Ich fragte la Gorda, ob sie wisse, was dann noch geschah. Ich selbst hatte keine Ahnung. La Gorda sagte, Silvio Manuel habe ihnen allen erzählt, daß der Adler mich aus ihrer Gruppe entfernt habe und daß ich mich dann endlich bereit gefunden hätte, mich von ihnen vorbereiten zu lassen und mein vorgezeichnetes Schicksal auf mich zu nehmen. Silvio Manuels Plan sah vor, mich in bewusstlosem Zustand in die Welt zwischen den parallelen Linien zu bringen und es dieser Welt zu überlassen, alle übriggebliebene und nutzlose Energie aus meinem Körper zu ziehen. Seine Idee erschien allen seinen Gefährten vernünftig, denn die Regel besagt, daß man nur mit Hilfe der Bewußtheit dort eintreten könne. Ohne Bewußtheit einzutreten, führe zum Tod, denn ohne Bewußtheit werde die Lebenskraft durch den physischen Druck jener Welt erschöpft.
    La Gorda erzählte weiter, daß sie selbst nicht mit mir zusammen dorthin gebracht worden sei.
    Aber der Nagual Juan Matus habe ihr gesagt, sobald ich von aller

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