Die Kunst des Pirschens
besorgt. Sie zog mir die Decke über die Schultern, sie lächelte und blinzelte mir zu.
>Der Handel gilt noch immer, du Arschloch<, sagte sie. >Komm wieder, sobald du kannst, falls du am Leben bleiben willst. Aber bring mir nicht deinen Herrn mit, du kleine Nutte. Komm nur mit denen, die unbedingt nötig sind.<«
Florinda ließ ihre Augen eine Weile auf mir ruhen. Aus ihrem Schweigen schloß ich, daß sie meine Meinung hören wollte.
»Alles Unnötige beiseite lassen, das ist das zweite Prinzip der Kunst des Pirschens«, sagte sie, ohne mir Zeit zu lassen, etwas zu sagen.
Ihre Erzählung hatte mich so gefesselt, daß ich gar nicht bemerkt hatte, daß - oder wann - die Nebelwand verschwunden war. Ich erkannte lediglich, daß sie nicht mehr da war. Florinda erhob sich aus ihrem Sessel und führte mich zur Tür. Dort standen wir eine Weile, wie wir es auch bei unserer ersten Begegnung getan hatten.
Florinda sagte, Celestinos Zorn habe der Heilerin die Möglichkeit gegeben, ihrem - Florindas - Körper, und nicht ihrem Verstand, die ersten drei Gebote der Regel für Pirscher vorzuführen. Obwohl ihre Gedanken ausschließlich um sie selbst kreisten, denn für sie gab es nichts anderes als ihren physischen Schmerz und die Angst, ihre Schönheit einzubüßen, hatte ihr Körper doch zur Kenntnis genommen, was geschehen war, und bedurfte später nur einer Erinnerung, um alles richtig zusammenzufügen.
»Der Krieger kann die Welt nicht als Ruhekissen benutzen, darum braucht er die Regel«, fuhr sie fort. »Aber die Regel für Pirscher gilt für jeden. Celestinos Arroganz war sein Niedergang, und zugleich der Anfang meiner Belehrung und Befreiung. Seine Überheblichkeit, die auch die meine war, zwang uns zu glauben, daß wir praktisch über allen anderen stünden. Die Heilerin reduzierte uns auf das, was wir wirklich sind - ein Nichts. Das erste Gebot der Regel besagt, daß alles, was uns umgibt, ein unergründliches Geheimnis ist. Das zweite Gebot der Regel besagt, daß wir versuchen müssen, diese Geheimnisse zu enträtseln, doch ohne die Hoffnung, daß es uns je gelingen wird. Das dritte besagt, daß ein Krieger, der sich der ihm unergründlichen Geheimnisse bewußt ist und sich auch seiner Pflicht bewußt ist, wenigstens zu versuchen, diese zu enträtseln, seinen rechtmäßigen Platz unter diesen Geheimnissen einnimmt und sich selbst als ein solches betrachtet. Folglich ist das Mysterium für den Krieger ohne Ende, ganz gleich, ob dieses Sein das Sein eines Kiesels, einer Ameise oder des eigenen Selbst ist. Dies ist die Demut eines Kriegers. Man ist allem anderen gleichgestellt.«
Es entstand ein langes, eindringliches Schweigen. Florinda lächelte und spielte mit der Spitze ihres langen Zopfes. Sie sagte, es sei diesmal genug für mich.
Als ich zum drittenmal Florinda besuchte, verließ Don Juan mich nicht an der Tür, sondern ging mit mir hinein. Alle Mitglieder seines Trupps waren im Haus versammelt, und sie begrüßten mich, als ob ich von einer weiten Reise zurückgekehrt wäre. Es war ein köstlicher Augenblick; es vereinigte Florinda in meinem Fühlen mit den anderen, denn es war das erste Mal, daß sie in meiner Gegenwart mit ihnen zusammen war.
Das nächste Mal, als ich zu Florindas Haus ging, stieß Don Juan mich unverhofft hinein, wie er es schon vorher getan hatte. Ich empfand einen ungeheuren Schock. Florinda erwartete mich auf dem Flur. Ich war augenblicklich in den Zustand eingetreten, in dem die Nebelwand sichtbar ist.
»Ich habe dir erzählt, wie die Prinzipien der Kunst des Pirschens mir gezeigt wurden«, sagte sie, kaum daß wir uns in ihrem Wohnzimmer auf das Sofa gesetzt hatten. »Jetzt mußt du dasselbe für mich tun. Wie war es, als der Nagual Juan Matus sie dir zeigte?«
Ich sagte ihr, daß ich mich nicht so ohne weiteres daran erinnern könne. Ich mußte darüber nachdenken, und ich konnte nicht denken. Mein Körper hatte Angst.
»Mach die Dinge nicht so kompliziert«, sagte sie in befehlerischem Ton. »Bemühe dich, einfach zu sein. Wende alle Konzentration auf, deren du fähig bist, um zu beschließen, ob du in die Schlacht ziehen willst oder nicht, denn jede Schlacht ist ein Kampf ums Leben. Dies ist das dritte Prinzip der Kunst des Pirschens. Ein Krieger muß willig und bereit sein, hier und jetzt sein letztes Gefecht auszukämpfen. Aber nicht irgendwie, Hals über Kopf.«
Ich konnte einfach nicht meine Gedanken ordnen. Ich streckte meine Beine aus und legte mich auf das Sofa. Ich
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