Die Kunst des Pirschens
atmete tief durch, um meine Körpermitte zu entspannen, die fest verknotet schien.
»Gut«, sagte Florinda. »Ich sehe, du wendest das vierte Prinzip der Kunst des Pirschens an.
Entspanne dich, laß locker, fürchte nichts. Nur dann wird die Kraft, die uns leitet, den Weg ebnen und uns helfen. Nur dann.«
Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie Don Juan mir die Prinzipien der Kunst des Pirschens gezeigt hatte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund wollte mein Denken sich nicht auf meine früheren Erlebnisse einstellen. Don Juan war eine so vage Erinnerung. Ich stand auf und sah mich um.
Das Zimmer, in dem ich mich befand, war erlesen eingerichtet. Der Fußboden bestand aus großen, lederfarbenen Fliesen. Er war mit bestem handwerklichen Geschick verlegt. Nun wollte ich mir die Möbel genauer ansehen. Ich trat vor einen schönen dunkelbraunen Tisch. Florinda sprang auf mich zu und schüttelte mich heftig.
»Du hast das fünfte Prinzip der Kunst des Pirschens richtig angewandt«, sagte sie. »Du darfst jetzt nicht abschweifen.«
»Wie lautet das fünfte Prinzip?« fragte ich.
»Wenn der Krieger auf Widrigkeiten stößt, mit denen er nicht umzugehen weiß, zieht er sich für eine Weile zurück«, sagte sie. »Er läßt seine Gedanken umherschweifen. Er beschäftigt sich eine Weile mit etwas anderem. Alles ist dazu geeignet. Genau dies hast du eben getan. Aber jetzt, wo du das geschafft hast, mußt du auch das sechste Prinzip anwenden: Der Krieger verdichtet die Zeit; dabei zählt sogar ein Augenblick. In einem Kampf ums Leben ist eine Sekunde eine Ewigkeit; eine Ewigkeit, die das Ergebnis entscheiden kann. Der Krieger hat vor, zu siegen, darum rafft er die Zeit. Der Krieger vergeudet keinen Augenblick. «
Auf einmal stürzte eine Flut von Erinnerungen auf mein Bewußtsein ein. Aufgeregt erzählte ich Florinda, daß ich mich ganz gewiß daran erinnern könne, wie Don Juan mich zum ersten Mal mit diesen Prinzipien vertraut machte. Florinda legte den Finger an die Lippen und gebot mir zu schweigen. Sie sagte, es sei ihr lediglich darum gegangen, mir diese Prinzipien vorzuführen, aber sie wolle nicht, daß ich ihr jene Erlebnisse erzähle.
Und Florinda fuhr mit ihrer Geschichte fort. Als nun die Heilerin ihr auftrug, ohne Celestino wiederzukommen, so erzählte sie, gab diese ihr ein Gebräu zu trinken, das ihren Schmerz augenblicklich linderte. Und sie flüsterte ihr ins Ohr, daß sie - Florinda - ganz allein eine gewichtige Entscheidung treffen müsse; sie solle ihren Geist beruhigen und an etwas anderes denken, aber sobald sie ihre Entscheidung gefällt hätte, dürfe sie keinen Augenblick mehr verschwenden.
Zu Hause bei Celestino verkündete sie ihren Wunsch, wieder die Heilerin aufzusuchen.
Celestino hielt jeden Einwand für zwecklos, denn ihre Überzeugung war unerschütterlich.
»Gleich danach suchte ich wieder die Heilerin auf «, fuhr Florinda fort.
»Diesmal ritten wir zu Pferde. Ich nahm nur meine vertrautesten Diener mit, das Mädchen, das mir das Gift gegeben hatte, und einen Mann, der die Pferde versorgte. Der Weg über die Berge war beschwerlich; die Pferde waren nervös - wegen dem Gestank meines Beins -, aber irgendwie schafften wir es. Ohne es zu wissen, hatte ich das dritte Prinzip der Kunst des Pirschens angewandt. Ich hatte mein Leben, oder was davon übrig war, aufs Spiel gesetzt. Ich war willig und bereit zu sterben. Dies war für mich keine gar so große Entscheidung, denn ich lag ohnehin im Sterben. Es ist eine bekannte Tatsache, daß man, wenn man - wie ich - halb tot ist, nicht vor Schmerzen, sondern wegen eines großen Kummers, die Neigung hat, so faul und schwach zu werden, daß einem keinerlei Anstrengung mehr möglich ist. Ich blieb sechs Tage im Haus der Heilerin. Schon am zweiten Tag fühlte ich mich besser. Die Schwellung ging zurück. Das Nässen am Bein hatte aufgehört. Der Schmerz war fort. Ich war nur noch ein wenig schwach und wacklig in den Knien, wenn ich zu gehen versuchte. Am sechsten Tag holte die Heilerin mich in ihr Zimmer. Sie war sehr behutsam mit mir, sie bezeugte mir alle Aufmerksamkeit, sie ließ mich auf ihrem Bett niedersitzen und gab mir Kaffee. Sie setzte sich vor meine Füße auf den Boden und sah mich an. Ich kann mich noch genau an ihre Worte erinnern. >Du bist sehr, sehr krank, und nur ich kann dich heilen<, sagte sie. >Wenn ich es nicht tu, wirst du eines unvorstellbaren Todes sterben. Und eine Idiotin, die du bist, wirst du es bis zum bitteren Ende
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