Die Kunst des Pirschens
ich mich in einem Kokon und spähte durch ein Loch hinaus. In diesem Zustand konnte ich entweder das bißchen Selbstkontrolle, das ich noch besaß, aufgeben und ins »Träumen« eintreten, oder ich konnte diese Selbstkontrolle beibehalten und passiv, gedankenlos und ohne Wünsche verweilen. Ich glaubte aber nicht, daß dies die entscheidenden Faktoren waren. La Gorda war, so glaubte ich, der Katalysator gewesen. Was ich für sie empfand, konnte ich nicht Liebe nennen, denn die Abgedroschenheit dieses Wortes ließ es mir gar zu oberflächlich erscheinen. Diese Gefühle, so dachte ich, hatten die Bedingungen für das »Sehen« geschaffen.
La Gorda lachte schüchtern, als ich ihr sagte, was ich dachte.
»Ich kann dir nicht zustimmen«, sagte sie. »In Wirklichkeit, glaube ich, fing dein Körper an sich zu erinnern.«
»Was willst du damit sagen?«
Jetzt entstand eine lange Pause. Anscheinend kämpfte sie dagegen an, etwas zu sagen, was sie nicht sagen wollte, oder sie mühte sich verzweifelt, die richtigen Worte zu finden.
»Da sind so viele Dinge, die ich weiß«, sagte sie, »und doch weiß ich nicht, was ich weiß. Ich erinnere mich an so viele Dinge, daß ich mich am Ende an nichts mehr erinnern kann. Ich glaube, du bist in der gleichen mißlichen Lage.«
Ich beteuerte ihr, daß es mir keineswegs so ging wie ihr. Sie wollte mir nicht glauben.
»Manchmal glaube ich wirklich, du weißt es nicht«, sagte sie. »Dann wieder glaube ich, daß du ein Spielchen mit uns machst. Der Nagual selbst sagte mir, daß er sich bei dir nicht sicher war.
Jetzt fallen mir wieder viele Dinge ein, die er mir über dich gesagt hat.«
»Was heißt es denn, daß mein Körper angefangen haben soll, sich zu erinnern?« wollte ich wissen.
»Frag mich das nicht«, sagte sie lächelnd. Ich weiß nicht, an was du dich erinnern solltest oder wie dieses Erinnern aussehen soll. Ich selbst habe es nie erlebt. Soviel weiß ich wenigstens.«
»Gibt es einen unter den Lehrlingen, der es mir sagen könnte?« f ragte ich.
»Keinen einzigen«, sagte sie. »Ich glaube, ich bin ein Bote für dich, ein Bote, der dir diesmal nur die halbe Botschaft bringen kann.«
Sie stand auf und bat mich, sie in ihre Heimatstadt zurückzufahren. Ich aber war in einer zu gehobenen Stimmung, um schon zu fahren. Auf meinen Vorschlag hin gingen wir einmal um die Plaza. Schließlich setzten wir uns auf eine andere Bank.
»Kommt es dir nicht merkwürdig vor, daß wir so leicht zusammen sehen konnten?« fragte la Gorda.
Ich wußte nicht, worauf sie hinauswollte. Ich zögerte mit meiner Antwort.
»Was würdest du meinen, wenn ich dir sagte, daß wir schon vorher einmal zusammen gesehen haben? « fragte la Gorda, wobei sie vorsichtig ihre Worte wählte.
Ich begriff nicht, was sie meinte. Sie wiederholte ihre Frage noch einmal, und ich konnte noch immer nicht die Bedeutung dessen erfassen, was sie sagte.
»Wann hätten wir denn schon vorher zusammen sehen sollen?« fragte ich. »Deine Frage ist mir unbegreiflich.«
»Das ist es ja gerade«, sagte sie. »Sie ist unbegreiflich, und doch habe ich das Gefühl, daß wir schon vorher zusammen gesehen haben.«
Ich verspürte ein Frösteln und stand auf. Da erinnerte ich mich wieder an die Empfindung, die ich in dieser Stadt gehabt hatte. La Gorda machte den Mund auf, um etwas zu sagen, hielt aber mitten im Satz inne. Sie starrte mich verblüfft an, legte mir die Hand an die Lippen und schleppte mich förmlich zum Wagen.
Ich fuhr die ganze Nacht hindurch. Ich wollte sprechen, analysieren, aber sie war eingeschlafen, als wollte sie absichtlich jeder Diskussion ausweichen. Sie hatte natürlich recht. Von uns beiden war sie diejenige, die sich der Gefahr bewußt war, eine Stimmung dadurch zu vertreiben, daß man sie übermäßig analysierte.
Als wir vor ihrem Haus anlangten und sie ausstieg, sagte sie, daß sie überhaupt nicht in der Lage sei, über das zu sprechen, was uns in Oaxaca geschehen war.
»Warum denn, Gorda?« fragte ich.
»Ich will unsere Kraft nicht verzetteln«, sagte sie. »Das ist die Art der Zauberer. Vergeude nie, was du gewonnen hast.«
»Aber wenn wir nicht darüber sprechen, werden wir nie wissen, was uns wirklich geschehen ist«, wandte ich ein.
»Wir müssen wenigstens neun Tage lang schweigen«, sagte sie.
»Können wir nur unter uns darüber reden?« fragte ich.
»Ein Gerede zwischen uns beiden ist genau das, was wir vermeiden müssen«, sagte sie. »Wir sind verletzlich. Wir brauchen Zeit,
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