Die Kunst des Pirschens
Sie sahen mich verwirrt an. Beide meinten, sie hätten grundlos Angst. Ich mußte ihnen beipflichten. Ich hatte das Gefühl, daß ich es nicht wagen würde, diese Brücke bei Nacht zu überqueren, nicht für alles Geld dieser Welt.
Warum, wußte ich nicht.
»Woran erinnerst du dich noch, Josefina?« fragte ich.
»Mein Körper fürchtet sich jetzt sehr«, sagte sie. »Ich kann mich an nichts mehr erinnern.
Dieser Teufel Silvio Manuel lauert immer in der Dunkelheit. Frag doch Rosa.«
Mit einer Kopfbewegung forderte ich Rosa auf zu sprechen. Sie nickte drei- oder viermal bestätigend, aber sie brachte kein Wort heraus. Die Spannung, unter der ich selbst stand, war unbegründet, aber doch real. Da standen wir alle auf dieser Brücke, genau in der Mitte, und unfähig, einen Schritt in die Richtung zu gehen, in die Josefina gedeutet hatte. Endlich ergriff Josefina die Initiative und drehte sich um.
Wir gingen in die Innenstadt zurück. Dann führte Pablito uns zu einem großen Haus. La Gorda, Lydia und Benigno saßen bereits am Tisch und aßen; sie hatten auch für uns etwas bestellt. Ich war nicht hungrig. Pablito, Nestor und Rosa waren wie betäubt. Josefina aß herzhaft. Es herrschte ein bedrückendes Schweigen am Tisch. Als ich ein Gespräch anfangen wollte, wichen alle meinem Blick aus.
Nach dem Frühstück gingen wir zu dem Haus. Niemand sprach ein Wort. Ich klopfte an, und als die Dame herauskam, erklärte ich ihr, daß ich meinen Freunden das Haus zeigen wolle. Sie zögerte einen Moment. La Gorda gab ihr etwas Geld und entschuldigte sich dafür, daß wir sie belästigten.
Josefina führte uns gleich nach hinten. Diesen Teil des Hauses hatte ich an dem Tag, als ich hier war, nicht gesehen. Dort gab es einen gepflasterten Hof mit ringsherum angeordneten Kammern. In den überdachten Korridoren lagerten sperrige Ackerbaugeräte. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich diesen Hof schon einmal gesehen, und zwar ohne das Gerümpel. Es waren acht Kammern, zwei an jeder Seite des Hofes. Nestor, Pablito und Benigno schienen im Begriff, sich übergeben zu müssen. La Gorda schwitzte stark. Sie setzte sich mit Josefina in eine Nische in einer der Mauern, während Lydia und Rosa in eine der Kammern gingen. Auf einmal schien Nestor von dem Drang befallen, irgend etwas zu suchen, und verschwand in einer anderen Kammer. Pablito und Benigno taten es ihm nach.
So blieb ich mit der Dame allein. Ich wollte mich mit ihr unterhalten und sie ausfragen, um festzustellen, ob sie Silvio Manuel kannte, aber ich brachte nicht die Kraft auf zu sprechen.
Mein Magen war verkrampft. Meine Hände trieften vor Schweiß. Was mich bedrückte, war eine unfaßbare Traurigkeit, eine Sehnsucht nach irgend etwas Unsagbarem, nicht Gegenwärtigem.
Ich hielt es nicht länger aus. Schon war ich drauf und dran, der Dame Lebewohl zu sagen und aus dem Haus zu laufen, als la Gorda an meine Seite kam. Sie flüsterte mir zu, wir sollten uns in ein großes Zimmer setzen, das an einem Korridor abseits vom Hof lag. Von dort, wo wir standen, konnten wir den Raum sehen. Wir gingen hinein.
Es war ein sehr großer, dunkler, leerer Raum mit einer hohen Balkendecke, finster, aber gut belüftet.
La Gorda rief auch die anderen herein. Die Dame sah uns nur an, kam aber selbst nicht mit. Alle schienen genau zu wissen, wohin sie sich setzen sollten. Die Genaros setzten sich an die eine Seite des Zimmers, rechts von der Tür, und la Gorda und die drei Mädchen saßen links an der anderen Seite. Sie saßen nahe an den Wänden. Obwohl ich mich gern neben la Gorda gesetzt hätte, ließ ich mich doch in der Mitte des Zimmers nieder. Dieser Platz schien mir der richtige.
Ich wußte nicht warum, aber es war, als habe ein Befehl von außen uns unsere Plätze zugeteilt.
Während ich dort saß, rollte eine Flut von seltsamen Gefühlen über mich hinweg. Ich war passiv und entspannt. Ich stellte mir vor, ich wäre eine Filmleinwand, auf die befremdliche Gefühle der Traurigkeit und Einsamkeit projiziert wurden. Doch es gab nichts, was ich als präzise Erinnerung hätte erkennen können. Wir blieben über eine Stunde in diesem Raum. Am Schluß hatte ich das Gefühl, ich sei im Begriff, den Ursprung der unheimlichen Traurigkeit zu entdecken, die mich beinahe hemmungslos weinen ließ. Aber ebenso unwillkürlich, wie wir uns hingesetzt hatten, standen wir nun auf und verließen das Haus. Wir bedankten uns nicht einmal bei der Dame oder verabschiedeten uns von ihr.
Wir
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