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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ihn.
    »Natürlich erinnerst du dich!« schrillte Josefina. »Wir waren alle hier. Was bist du eigentlich für ein dummer Esel?«
    Mein Versuch, etwas herauszufinden, bedurfte einer gewissen Ordnung. Ich führte sie von der Brücke fort. Nachdem sie so aktive Menschen waren, meinte ich, würden sie sich entspannter fühlen, wenn sie umherschlenderten, statt dazusitzen und über die Dinge zu sprechen, wie ich selbst es vorgezogen hätte.
    Während wir so dahingingen, verschwand der Zorn der Frauen so rasch, wie er gekommen war. Lydia und Josefina wurden noch gesprächiger, sie beteuerten immer wieder ihren Eindruck, daß Silvio Manuel grauenerregend wäre. Keine von ihnen konnte sich aber erinnern, physisch angegriffen oder verletzt worden zu sein; sie erinnerten sich nur daran, vor Angst gelähmt gewesen zu sein. Rosa sagte kein Wort, aber sie pflichtete mit Gebärden all dem bei, was die anderen sagten. Ich fragte sie, ob es Nacht gewesen sei, als sie die Brücke zu überqueren versuchten. Lydia und Josefina sagten beide, es sei Tag gewesen.
    Rosa räusperte sich und flüsterte, es sei Nacht gewesen. La Gorda erklärte die Diskrepanz und stellte fest, es sei in der Morgendämmerung oder kurz davor gewesen.
    Wir erreichten das Ende einer kurzen Straße und wandten uns automatisch wieder der Brücke zu.
    »Es ist einfach wie nur was«, sagte la Gorda auf einmal, als hätte sie gerade darüber nachgedacht. »Wir überquerten - oder vielmehr ließ Silvio Manuel uns die parallelen Linien überqueren. Diese Brücke ist ein Platz der Kraft, eine Öffnung in dieser Welt, eine Pforte zu der anderen. Wir sind durch sie hindurchgegangen. Wahrscheinlich schmerzte es, als ich hindurchging, weil mein Körper Angst hatte. Silvio Manuel erwartete uns auf der anderen Seite.
    Keiner von uns erinnert sich an sein Gesicht, weil Silvio Manuel im Dunkel bleibt und niemals sein Gesicht zeigen würde. Wir konnten nur seine Augen sehen. «
    »Ein Auge«, sagte Rosa leise und sah weg.
    »Jeder hier, und auch du«, sagte la Gorda zu mir, »weiß, daß Silvio Manuels Gesicht im Dunkel ist. Man konnte nur seine Stimme hören - leise wie gedämpftes Husten.«
    La Gorda hörte auf zu sprechen und begann mich auf eine Weise zu mustern, die mich befangen machte. Ihre Augen waren berechnend; sie vermittelte mir den Eindruck, als halte sie etwas zurück, was sie wußte. Ich fragte sie danach, Sie stritt es ab, gab aber zu, daß sie verschiedene unbegründete Gefühle hatte, die sie sich nicht weiter zu erklären suchte. Ich drängte die Frauen, ja verlangte schließlich von ihnen, sich anzustrengen und sich zu erinnern, was ihnen auf der anderen Seite der Brücke widerfahren sei. Jede konnte sich lediglich daran erinnern, die Schreie der anderen gehört zu haben.
    Die drei Genaros hatten sich aus unserem Gespräch herausgehalten. Nun fragte ich Nestor, ob er eine Ahnung hätte, was geschehen sei. Seine düstere Antwort besagte, daß all dies über seinen Verstand ging.
    Dann traf ich eine rasche Entscheidung. Mir schien es, als bleibe uns der einzige Ausweg, diese Brücke zu überschreiten. Ich rief sie alle zusammen und schlug vor, wir sollten zu der Brücke zurückkehren und als geschlossene Gruppe hinübergehen. Die Männer waren sofort einverstanden. Die Frauen nicht. Nachdem ich alle meine Vernunftgründe erschöpft hatte, blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als Lydia, Rosa und Josefina voranzuschieben und zu stoßen. La Gorda zögerte, ob sie gehen wollte, schien aber von der Möglichkeit fasziniert. Sie ging mit, wollte mir aber bei den anderen Frauen nicht behilflich sein, und ähnlich verhielten sich die Genaros; sie kicherten nervös über meine Bemühungen, die drei Frauen vorwärtszutreiben, rührten aber keinen Finger, um mir zu helfen. Wir gingen bis an die Stelle, wo wir zuvor haltgemacht hatten. Jetzt spürte ich, daß ich auf einmal zu schwach war, um die drei Frauen festzuhalten. Ich schrie la Gorda an, sie solle mir doch helfen. Sie machte einen ziellosen Versuch, Lydia einzufangen, während die Gruppe ihren Zusammenhalt verlor und alle, außer la Gorda, drängend, schiebend und stoßend die Sicherheit der Straße gewannen. La Gorda und ich blieben wie angeleimt auf der Brücke stehen, unfähig, einen Schritt vorwärts zu gehen, und doch nicht bereit, uns zurückzuziehen.
    La Gorda flüsterte mir ins Ohr, ich hätte gar nichts zu befürchten, denn in Wirklichkeit sei ich es gewesen, der sie auf der anderen Seite erwartet

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