Die Kunst des Pirschens
ihn wird es keine Reise für uns geben.«
»Mich beunruhigt die Frage, wohin ich euch alle bringen soll und was ich dann mit euch anfangen soll«, sagte ich.
»Soledad hat gesagt, wir werden bis an die Grenze nach Norden fahren«, sagte la Gorda.
»Einige von uns vielleicht noch weiter nach Norden. Du aber wirst nicht den ganzen Weg mit uns fahren. Du hast ein anderes Schicksal.«
La Gorda wurde für einen Augenblick nachdenklich. Unter der sichtlichen Anstrengung, ihre Gedanken zu ordnen, runzelte sie die Stirn.
»Soledad hat gesagt, du wirst mich mitnehmen, damit ich mein Schicksal erfülle«, sagte la Gorda. »Ich bin die einzige von uns, für die du verantwortlich bist.«
Mein Erschrecken mochte mir vom Gesicht abzulesen sein. Sie lächelte.
»Soledad hat auch gesagt, daß du verstöpselt bist«, fuhr sie fort. »Aber du hast Momente, da bist du ein Nagual. Die übrige Zeit, so sagte Soledad, bist du wie ein Verrückter, der nur kurze klare Augenblicke hat und dann wieder in seine Verrücktheit versinkt. «
Dona Soledad hatte ein treffendes Bild gewählt, um mich zu charakterisieren - eines, das ich verstand. Für sie hatte ich wahrscheinlich einen Moment der Klarheit, als ich wußte, daß ich die parallelen Linien überschritten hatte. Nach meinen Maßstäben dagegen war dieser Moment der ungereimteste überhaupt. Dona Soledad und ich bewegten uns gewiß auf zwei verschiedenen Bahnen des Denkens.
»Was hat sie dir noch gesagt?« fragte ich.
»Sie hat gesagt, ich soll mich zwingen, mich zu erinnern«, sagte la Gorda. »Sie hat sich erschöpft bei dem Versuch, meine Erinnerung hervorzubringen; das ist auch der Grund, warum sie sich nicht auf dich einlassen konnte.«
La Gorda stand auf; sie war bereit zu gehen. Ich begleitete sie auf einen Spaziergang durch die Stadt. Sie wirkte sehr glücklich. Sie lief hierhin und dorthin und beobachtete alles. Sie labte ihre Augen an der Welt. Dieses Bild verdankte ich Don Juan. Ein Krieger, so sagte er, weiß, daß er wartet, und er weiß auch, worauf er wartet, und während er wartet, labt er seine Augen an der Welt.
Für ihn war Freude die höchste Leistung eines Kriegers. An jenem Tag in Oaxaca befolgte la Gorda buchstabengetreu die Lehren des Don Juan.
Am späten Nachmittag, vor Anbruch der Dämmerung, setzten wir uns auf Don Juans Bank.
Benigno, Pablito und Josefina tauchten als erste auf. Nach einigen Minuten gesellten sich auch die anderen drei zu uns. Pablito setzte sich zwischen Josefina und Lydia und legte die Arme um sie. Auch sie hatten wieder ihre alten Kleider angezogen. La Gorda stand auf und begann ihnen von dem Platz der Kraft zu erzählen.
Nestor lachte sie aus, und die anderen fielen in seinen Spott ein. » Nie wieder werden wir auf dein Chefgehabe hereinfallen «, sagte Nestor. »Wir haben uns von dir befreit. Wir haben gestern abend die Grenzen überschritten.«
La Gorda blieb ungerührt, doch die anderen waren zornig. Ich mußte vermittelnd eingreifen.
Laut verkündete ich, ich wolle mehr über die Grenzen wissen, die wir am Vorabend überschritten hatten. Nestor erklärte, dies gehe nur sie selbst etwas an. La Gorda widersprach.
Sie schienen nahe daran, sich zu verprügeln. Ich zog Nestor auf die Seite und befahl ihm, mir von den Grenzen zu erzählen.
»Unsere Gefühle ziehen Grenzen um alles«, sagte er. »Je mehr wir lieben, desto stärker ist die Grenze. In diesem Fall liebten wir unser Zuhause; bevor wir es verließen, mußten wir unsere Gefühle aufheben. Unsere Gefühle für unsere Heimat gingen auf die Gipfel der Berge im Westen unseres Tales. Das war die Grenze, und als wir die Höhe der Berge überschritten und wußten, daß wir nie wieder zurückkehren würden, da zerbrachen wir sie. «
»Aber ich wußte doch auch, daß ich niemals zurückkehren würde«, sagte ich.
»Du hast diese Berge nicht so geliebt wie wir«, antwortete Nestor.
»Das muß sich erst noch erweisen«, sagte la Gorda geheimnisvoll.
»Wir standen unter ihrem Einfluß«, sagte Pablito, der aufstand und auf la Gorda deutete. »Sie saß uns im Nacken. Jetzt erkenne ich, wie dumm wir ihretwegen waren. Wir brauchen nicht die verschüttete Milch zu beweinen, aber wir werden nie wieder darauf hereinfallen.«
Lydia und Josefina schlossen sich Nestor und Pablito an. Benigno und Rosa schauten drein, als ob der Streit sie nicht mehr beträfe.
Genau in diesem Augenblick hatte ich wieder eine Anwandlung von Gewißheit und autoritärem Verhalten. Ich stand auf und
Weitere Kostenlose Bücher