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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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kauften uns Zuckersemmeln. Auf dem Rückweg zur Plaza, wo wir auf la Gorda und Lydia warten wollten, schlug Josefina sich plötzlich an die Stirn, als wäre ihr gerade ein Einfall gekommen.
    »Ich weiß jetzt, was fehlt«, rief sie. »Diese dämliche Nebelwand. Damals war sie da, jetzt ist sie weg.«
    Alle sprachen wir gleichzeitig auf sie ein und befragten sie nach der Mauer, während Josefina ungestört weiter redete, als ob wir gar nicht da wären.
    »Es war eine Nebelwand, die bis in den Himmel hinaufragte«, sagte sie. »Genau hier war sie.
    Immer wenn ich den Kopf umdrehte, war sie da. Sie machte mich ganz verrückt. So ist es, verflucht! Ich war nicht verrückt, bis diese Wand mich verrückt machte. Ich sah sie mit geschlossenen Augen genauso wie mit offenen Augen. Ich glaubte schon, die Wand sei hinter mir her.«
    Jetzt verlor Josefina für einen Moment ihre natürliche Lebhaftigkeit. Ihre Augen nahmen einen trostlosen Ausdruck an. Ich kannte diesen Blick bei Menschen, die einen psychotischen Schub durchmachen. Rasch forderte ich sie auf, ihre Semmel zu essen. Sie beruhigte sich sofort und fing an zu essen.
    »Was hältst du von all dem, Nestor?« fragte ich. »Ich hab Angst«, sagte er leise.
    »Erinnerst du dich an irgend etwas?« fragte ich ihn.
    Er schüttelte verneinend den Kopf. Durch einen Wink mit den Augenbrauen fragte ich auch Pablito und Benigno. Sie verneinten ebenfalls kopfschüttelnd.
    »Wie ist's mit dir, Rosa?« fragte ich.
    Rosa fuhr zusammen, als sie hörte, daß sie angesprochen wurde. Sie schien die Sprache verloren zu haben. Sie hielt eine Zuckersemmel in der Hand und starrte sie an, offenbar unentschlossen, was sie damit anfangen sollte.
    »Natürlich erinnert sie sich«, sagte Josefina lachend, »aber sie ist zu Tode erschrocken. Siehst du denn nicht, daß ihr schon die Pisse aus den Ohren läuft?«
    Josefina fand ihren Spruch ungemein witzig. Sie krümmte sich vor Lachen und ließ ihre Semmel auf den Boden fallen. Sie hob sie auf, staubte sie ab und aß sie auf.
    »Die Verrückten fressen alles«, sagte sie und schlug mir auf den Rücken.
    Nestor und Benigno fanden Josefinas Possen sichtlich peinlich. Pablito war entzückt. In seinen Augen lag Bewunderung. Er schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge, als ob er solche Anmut gar nicht glauben könne.
    »Laßt uns zu dem Haus gehen«, drängte Josefina uns. »Dort werde ich euch alles mögliche erzählen.«
    Ich meinte, wir sollten auf la Gorda und Lydia warten; außerdem sei es noch zu früh, die freundliche Dame zu belästigen, die dort lebte. Pablito meinte, er habe durch seine Schreinerei schon in dieser Stadt zu tun gehabt und wisse ein Haus, wo eine Familie eine Küche für Durchreisende betrieb. Josefina wollte nicht warten; für sie gab es nur die Wahl, entweder zu dem Haus oder richtig essen zu gehen. Ich war dafür, zuerst einmal zu frühstücken, und sagte Rosa, sie möge in die Kirche laufen und la Gorda und Lydia holen, aber Benigno fand sich ritterlich bereit, auf die beiden zu warten und sie zu unserem Frühstückslokal zu führen . Anscheinend wußte auch er, wo dieses Restaurant war.
    Pablito führte uns nicht auf geradem Weg dorthin. Vielmehr machten wir auf meine Bitte einen langen Umweg. Am Stadtrand gab es eine alte Brücke, die ich mir ansehen wollte. Ich hatte sie vom Auto aus gesehen, damals als ich mit la Gorda hier gewesen war. Sie schien im Kolonialstil erbaut. Wir gingen auf die Brücke hinaus und blieben dann in der Mitte plötzlich stehen. Ich fragte einen Mann, der dort stand, ob die Brücke wohl sehr alt sei. Er meinte, er kenne sie schon sein Leben lang, und er sei über fünfzig Jahre alt. Ich hatte geglaubt, daß die Brücke nur auf mich eine so einzigartige Faszination ausübte, aber als ich jetzt die anderen beobachtete, mußte ich mir sagen, daß auch sie unter ihrem Bann standen. Nestor und Rosa keuchten atemlos.
    Pablito hielt sich an Josefina fest, und sie wiederum hielt sich an mir fest.
    »Erinnerst du dich an etwas, Josefina?« fragte ich.
    »Dieser Teufel, Silvio Manuel, ist auf der anderen Seite der Brücke«, sagte sie und zeigte zum anderen Ende hinüber, etwa dreißig Fuß entfernt.
    Ich sah Rosa in die Augen. Sie nickte bestätigend mit dem Kopf und flüsterte mir zu, sie habe irgendwann einmal in Angst und Schrecken diese Brücke überquert, und da habe am andern Ende irgend etwas auf sie gewartet, um sie zu verschlingen.
    Die beiden Männer konnten mir auch nicht weiterhelfen.

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