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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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versammelten uns auf der Plaza. La Gorda stellte gleich anfangs fest, daß sie, weil sie formlos sei, noch immer die Verantwortung trage. Sie sagte, sie müsse diesen Standpunkt vertreten, und zwar aufgrund von Schlußfolgerungen, zu denen sie in Silvio Manuels Haus gelangt sei. La Gorda schien auf unsere Äußerungen zu warten. Das Schweigen der anderen war mir unerträglich. Schließlich mußte ich doch etwas sagen.
    »Zu welchen Schlußfolgerungen bist du denn in jenem Haus gekommen, Gorda?« fragte ich.
    »Ich glaube, wir alle wissen, welche es sind«, antwortete sie arrogant.
    »Wir wissen es nicht«, sagte ich. »Bis jetzt hat niemand etwas gesagt. «
    »Wir brauchen nicht zu reden, wir wissen«, sagte la Gorda.
    Ich beharrte darauf, ich könne ein so wichtiges Ereignis nicht als selbstverständlich hinnehmen.
    Wir müßten über unsere Gefühle sprechen. Was mich betraf, so hatte das Erlebnis mir nichts anderes als ein verheerendes Gefühl der Traurigkeit und Verzweiflung hinterlassen.
    »Der Nagual Juan Matus hatte recht«, sagte la Gorda. »Wir mußten an diesem Platz der Kraft sitzen, um frei zu werden. Ich bin jetzt frei. Ich weiß nicht, wie es geschah, aber während ich dort saß, wurde mir irgend etwas abgenommen.«
    Die drei Frauen stimmten ihr zu. Die drei Männer nicht. Nestor sagte, er sei nahe daran gewesen, sich an wirkliche Gesichter zu erinnern, aber so sehr er sich auch angestrengt hätte, um klar zu sehen, habe doch irgend etwas ihn behindert. Alles, was er erlebt hatte, war ein Gefühl der Sehnsucht und Traurigkeit darüber, noch immer dieser Welt anzugehören. Pablito und Benigno sagten mehr oder minder das gleiche.
    »Siehst du, was ich meine, Gorda?« fragte ich.
    Sie schien nicht einverstanden; sie blies sich vor Stolz auf, wie ich es bei ihr noch nie gesehen hatte. Ja, hatte ich sie denn schon einmal vor Stolz aufgeblasen gesehen? Sie hielt der Gruppe eine Ansprache. Ich konnte nicht darauf achten, was sie sagte, denn ich war ganz mit einer Erinnerung beschäftigt, die noch formlos, aber mir beinahe schon zugänglich war; um sie in Gang zu halten, so schien es mir, brauchte ich einen dauernden Energiestrom von la Gorda. Ich war auf den Klang ihrer Stimme, auf ihren Zorn fixiert. Irgendwann, als sie etwas zurücksteckte, brüllte ich sie an, sie wolle uns wie ein Chef bevormunden. Sie geriet wirklich aus der Fassung.
    Ich beobachtete sie eine Weile. Ich erinnerte mich an eine andere Gorda, zu einer anderen Zeit; eine wütende, fette Gorda, die mit den Fäusten auf meine Brust trommelte. Ich erinnerte mich, wie ich darüber gelacht hatte, sie so wütend zu sehen, wie ich ihr zugeredet hatte wie einem Kind. Diese Erinnerung endete im gleichen Moment, als la Gordas Stimme verstummte.
    Anscheinend hatte sie erkannt, was in mir vorging.
    Ich wandte mich an alle und sagte ihnen, daß wir uns in einer gefährlichen Lage befänden - daß etwas Unbekanntes drohend über uns hing.
    »Es hängt nicht über uns«, sagte la Gorda trocken. »Es hat uns bereits getroffen. Und ich glaube, du weißt, was es ist.«
    »Ich weiß es nicht, und ich glaube, ich spreche auch für die übrigen Männer«, sagte ich.
    Die drei Genaros stimmten kopfnickend zu.
    »Wir haben einmal in diesem Haus gelebt, während wir uns auf der linken Seite befanden«, erklärte la Gorda. »Ich saß immer in dieser Nische und weinte, weil ich nicht wußte, was ich tun sollte. Ich glaube, wenn ich heute etwas länger in diesem Zimmer hätte bleiben können, dann hätte ich mich an alles erinnert. Aber irgend etwas trieb mich hinaus. Ich saß auch immer in diesem Zimmer, und damals waren mehr Menschen drin. Ich konnte mich aber nicht an ihre Gesichter erinnern, und doch wurden mir, als ich heute dort saß, noch andere Dinge klar. Ich bin formlos. Die Dinge fliegen mir zu, gute und böse. Zum Beispiel nahm ich da meine alte Arroganz wieder an und meinen Hang zum Grübeln. Aber ich habe auch andere Dinge angenommen, gute Dinge.«
    »Ich auch«, sagte Lydia mit rauher Stimme.
    »Was sind denn diese guten Dinge?« fragte ich.
    Ach glaube, es ist unrecht von mir, dich zu hassen«, sagte Lydia. »Mein Haß wird mich daran hindern davonzufliegen. Das sagten sie mir in diesem Zimmer, die Männer dort und die Frauen.«
    »Welche Männer und welche Frauen? « fragte Nestor mit Furcht in der Stimme.
    »Ich war dort, als sie dort waren, mehr weiß ich nicht«, sagte Lydia. »Du warst auch dort. Wir alle waren dort.«
    »Wer sind diese Männer und

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