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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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abzuleiten - oder vielmehr die Wucht dessen, was über mich gekommen war; denn willentlich hatte ich nichts getan.
    Bis zu jener Nacht konnte ich mir, wenn ich eine Inventur meiner Erfahrungen aufstellen wollte, Rechenschaft über die Kontinuität meines Lebens ablegen. Die nebulösen Erinnerungen, die ich an la Gorda hatte, oder die Ahnung, schon irgendwann einmal in jenem Haus in den Bergen Zentralmexikos gelebt zu haben, waren in gewisser Weise eine Bedrohung für meine Vorstellung von Kontinuität, aber sie waren nichts im Vergleich mit der Erinnerung an die Nagual-Frau. Nicht so sehr wegen der Emotionen, die die Erinnerung als solche mir wiederbrachte, sondern weil ich sie vergessen hatte; und nicht wie man einen Namen oder eine Melodie vergisst. Vor diesem Augenblick der Erleuchtung war nichts von ihr in meinem Sinnen gewesen - nichts! Dann kam irgend etwas über mich, oder irgend etwas fiel von mir ab, und ich erinnerte mich auf einmal an ein ganz bedeutendes Wesen, dem ich, wenn ich die Sache mit den Augen meines empirischen Selbst vor jenem Augenblick betrachtete, niemals begegnet war.
    Ich mußte noch zwei Tage auf la Gordas Rückkehr warten, bevor ich ihr von meiner Erinnerung erzählen konnte. Im gleichen Augenblick, als ich ihr die Nagual-Frau schilderte, erinnerte sich la Gorda an sie; das Bewusstwerden bei ihr war irgendwie von dem meinen abhängig.
    »Das Mädchen, das ich in dem weißen Auto gesehen hatte, war die Nagual-Frau! « rief la Gorda atemlos. »Sie kam zu mir zurück, und ich konnte mich nicht an sie erinnern.«
    Ich hörte die Worte und verstand deren Bedeutung, aber ich brauchte lange, um meine Sinne auf das zu konzentrieren, was sie gesagt hatte. Meine Aufmerksamkeit schwand. Es war wirklich so, als wäre ein Licht vor meine Augen gestellt und dann abgeschirmt worden. Mir war, als ob ich, wenn ich dieses Schwinden nicht aufhalten konnte, sterben müßte. Plötzlich spürte ich einen Krampf, und dann wußte ich, daß ich zwei Teile meiner selbst zusammengefügt hatte, die irgendwann voneinander getrennt worden waren; ich erkannte, daß die junge Frau, die ich bei Don Juan gesehen hatte, die Nagual-Frau war.
    In diesem Augenblick des emotionalen Aufruhrs war la Gorda mir keine Hilfe. Ihre Stimmung war ansteckend. Sie weinte hemmungslos. Der emotionale Schock, sich an die Nagual-Frau zu erinnern, war für sie traumatisch gewesen.
    »Wie konnte ich sie nur vergessen haben«, seufzte la Gorda
    Als sie mich ansah, schimmerte ein Anflug von Mißtrauen in ihren Augen auf.
    »Du hattest keine Ahnung, daß sie existierte, nicht wahr?« fragte sie.
    Unter anderen Bedingungen hätte ich ihre Frage herausfordernd und beleidigend gefunden, aber sie artikulierte nur meinen eigenen Verdacht ihr gegenüber. Auch mir war der Gedanke in den Sinn gekommen, sie könnte mehr wissen, als sie mir sagte.
    »Nein, das wußte ich nicht«, sagte ich. »Aber wie steht's mit dir, Gorda? Wusstest du, daß sie existierte?«
    Ihr Gesicht zeigte einen solchen Ausdruck von Unschuld und Betroffenheit, daß meine Zweifel sich verflüchtigten.
    »Nein«, antwortete sie. »Bis heute nicht. Ich weiß jetzt genau, daß ich immer mit ihr und dem Nagual Juan Matus auf jener Bank an der Plaza in Oaxaca zu sitzen pflegte. Ich konnte mich immer daran erinnern, daß wir das taten, und ich konnte mich an ihre Gesichtszüge erinnern, aber ich meinte, daß ich das alles geträumt hatte. Ich wußte alles, und doch wußte ich es nicht.
    Aber warum glaubte ich, es sei ein Traum?«
    Ich hatte eine Anwandlung von Panik. Dann hatte ich die vollkommene körperliche Gewißheit, daß, während sie sprach, irgendwo in meinem Körper ein Kanal sich aufgetan hatte. Plötzlich wußte ich, daß auch ich mit Don Juan und der Nagual-Frau auf dieser Bank zu sitzen pflegte.
    Und dann erinnerte ich mich an ein Gefühl, das ich jedesmal bei diesen Gelegenheiten erlebt hatte. Es war ein Gefühl körperlicher Zufriedenheit, des Glücks und der Fülle, das ganz unvorstellbar ist. Ich dachte, daß Don Juan und die Nagual-Frau vollkommene Wesen waren und daß es mein größtes Glück war, ihre Gesellschaft zu genießen. Auf dieser Bank sitzend, flankiert von den wunderbarsten Menschen auf Erden, erlebte ich vielleicht den Gipfel meiner menschlichen Empfindungen. Einmal sagte ich zu Don Juan, und ich meinte es aufrichtig, daß ich damals sterben wollte, um dieses Gefühl rein und intakt, frei von jeder Ablenkung zu erhalten.
    Ich erzählte la Gorda von meiner

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