Die Kunst des Pirschens
Erinnerung. Sie sagte, sie verstehe, was ich meinte. Wir schwiegen eine Weile, und dann stürzte der Ansturm unserer Erinnerungen uns gefährlich in schiere Verzweiflung und Traurigkeit. Ich mußte mit aller Macht meine Gefühle kontrollieren, um nicht zu weinen. La Gorda schluchzte. Sie bedeckte ihr Gesicht mit dem Arm.
Nach einiger Zeit wurden wir ruhiger. La Gorda starrte mir in die Augen. Ich wußte, was sie dachte. Es war, als könne ich ihre Fragen in ihren Augen lesen. Es waren die gleichen Fragen, die mich seit Tagen beherrschten. Wer war die Nagual-Frau? Wo waren wir ihr begegnet? Wo war sie einzuordnen? Kannten auch die anderen sie?
Ich stand gerade im Begriff, meine Fragen auszusprechen, als la Gorda mir ins Wort fiel.
»Ich weiß wirklich nicht«, sagte sie rasch und kam damit meiner Frage zuvor. »Ich hatte mich darauf verlassen, daß du es mir sagst. Ich weiß wirklich nicht warum, aber ich habe das Gefühl, daß du mir sagen kannst, was was ist.«
Sie verließ sich auf mich, und ich verließ mich auf sie. Wir lachten über die Ironie unserer Situation. Ich bat sie, mir alles über die Nagual Frau zu erzählen, woran sie sich erinnerte. La Gorda machte einige angestrengte Versuche, etwas zu sagen, aber sie schien unfähig, ihre Gedanken zu organisieren.
»Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll«, sagte sie. »Ich weiß nur, daß ich sie liebte.«
Ich erzählte ihr, daß ich das gleiche Gefühl hätte. Eine überirdische Traurigkeit ergriff jedesmal von mir Besitz, wenn ich an die Nagual Frau dachte. Noch während ich sprach, begann mein Körper zu zittern.
»Du und ich, wir haben sie geliebt«, sagte la Gorda. »Ich weiß nicht, warum ich dies sage, aber ich weiß, daß wir ihr Eigen waren.«
Ich drängte sie, mir diese Aussage zu erklären. Sie konnte nicht herausfinden, warum sie es gesagt hatte. Sie sprach nervös drauflos und versuchte unsere Gefühle zu ergründen. Ich konnte ihr nicht mehr meine Aufmerksamkeit widmen. Ich spürte in meinem Solarplexus ein Flattern.
Eine schwache Erinnerung an die Nagual Frau nahm allmählich Gestalt an. Ich drängte la Gorda weiterzureden, sich einfach zu wiederholen, wenn sie nichts mehr zu sagen wisse, aber nur ja nicht aufzuhören. Der Klang ihrer Stimme wirkte auf mich anscheinend wie eine Leitung in eine andere Dimension, in eine andere Art von Zeit. Es war mir, als raste mein Blut mit ungeheurem Druck durch meinen Körper. Ich spürte überall ein Prickeln, und dann hatte ich eine seltsame körperliche Erinnerung. Ich wußte in meinem Körper, daß die Nagual Frau jenes Wesen war, das den Nagual vollständig machte. Sie brachte dem Nagual Frieden, Fülle, ein Gefühl, beschützt und gerettet zu sein.
Ich erzählte la Gorda, ich hätte gerade die Einsicht gehabt, daß die Nagual-Frau Don Juans Partnerin war. Sie sah mich entgeistert an. Langsam schüttelte sie den Kopf von einer Seite zur andern.
»Sie hatte nichts mit dem Nagual Juan Matus zu tun, du Idiot«, sagte sie im Ton höchster Autorität. »Sie war für dich bestimmt. Das ist der Grund, warum du und ich ihr Eigen waren.«
La Gorda und ich starrten uns in die Augen. Ich war mir sicher, daß sie unwillkürlich Gedanken äußerte, die für sie selbst keinen rationalen Sinn ergaben.
»Was meinst du damit: Sie war für mich bestimmt, Gorda?« fragte ich nach längerem Schweigen.
»Sie war deine Partnerin«, sagte sie. »Ihr beide wart ein Team. Und ich war ihr Mündel. Und sie gab dir den Auftrag, mich eines Tages wieder ihr zu überantworten.«
Ich flehte la Gorda an, mir alles zu erzählen, was sie wisse, aber sie schien zu diesem Thema nichts mehr zu wissen. Ich fühlte mich erschöpft.
»Wohin ist sie gegangen?« fragte la Gorda plötzlich. »Das ist's, was ich mir einfach nicht erklären kann. Sie war bei dir, nicht beim Nagual. Jetzt sollte sie hier bei uns sein.«
Dann wurde sie wieder von Mißtrauen und Furcht heimgesucht. Sie beschuldigte mich, die Nagual Frau in Los Angeles zu verstecken. Ich versuchte ihre Befürchtungen zu beschwichtigen. Ich überraschte mich selbst dabei, wie ich zu la Gorda wie zu einem Kinde sprach. Sie hörte mir zu, mit allen äußeren Anzeichen vollkommener Aufmerksamkeit, aber ihre Augen waren leer, sie blickten ins Unbestimmte. Da wurde mir klar, daß sie den Klang meiner Stimme als Leitung benutzte, genau wie ich den Klang der ihren benutzt hatte. Ich wußte, daß auch sie sich dessen bewußt war. So redete ich weiter, bis mir die Dinge, die
Weitere Kostenlose Bücher