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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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mexikanischen Liedes durch den Kopf gegangen. Irgendwann träumte mir, daß jemand es auf der Gitarre spielte. Ich beklagte mich über die Monotonie des Liedes, und die Person, bei der ich mich beklagte, stieß mir die Gitarre vor den Bauch. Ich sprang zurück, um dem Schlag auszuweichen. Dabei stieß ich mit dem Kopf gegen die Wand -und erwachte. Es war kein lebhafter Traum gewesen, nur die Melodie verfolgte mich eindringlich. Ich konnte den Klang der Gitarre nicht loswerden, er ging mir andauernd durch den Kopf. So blieb ich im Halbschlaf liegen und lauschte der Melodie. Es war mir, als geriete ich in einen Zustand des »Träumens«. Vor meinen Augen tauchte eine vollständige Traumszene mit allen Einzelheiten auf; in dieser Szene sah ich eine junge Frau neben mir sitzen. Ich konnte jedes Detail ihrer Gesichtszüge erkennen. Ich wußte nicht, wer sie war, aber ihr Anblick erschreckte mich.
    Augenblicklich war ich hell wach. Die Angst, die dieses Gesicht in mir hervorrief, war so heftig, daß ich aufstand und automatisch hin und her zu laufen begann. Ich schwitzte reichlich, und mir graute davor, mein Zimmer zu verlassen. Ich konnte auch la Gorda nicht um Hilfe rufen. Sie war für ein paar Tage nach Mexiko gefahren, um Josefina zu besuchen. Ich wickelte mir ein Laken um die Hüften, um meine Körpermitte zu schützen. Es half mir, die Wellen nervöser Energie zu dämpfen, die durch mich hindurchfuhren.
    Während ich auf und ab schritt, begann das Bild vor meinem inneren Auge sich aufzulösen, nicht in ein friedliches Vergessen, wie ich es gern gewollt hätte, sondern in eine komplizierte, voll entfaltete Erinnerung. Ich erinnerte mich daran, wie ich einmal auf ein paar Weizen- oder Gerstesäcken hockte, die in einem Getreideschuppen aufgestapelt waren. Die junge Frau, von der wir so viel gesprochen hatten, sang das alte mexikanische Lied, das mir dauernd durch den Kopf gegangen war, und spielte dazu auf der Gitarre. Als ich sie wegen ihrem Spiel hänselte, stieß sie mich mit dem Knauf der Gitarre in die Rippen. Es waren noch andere Leute bei mir gesessen, la Gorda und zwei Männer. Diese Männer kannte ich sehr gut, aber ich konnte mich noch immer nicht erinnern, wer die junge Frau war. Ich strengte mich an, aber es schien hoffnungslos.
    In kalten Schweiß gebadet, legte ich mich wieder hin. Ich wollte mich einen Moment ausruhen, bevor ich mich aus meinem durchnässten Pyjama schälte. Als ich meinen Kopf auf ein hohes Kissen bettete, klärte sich meine Erinnerung noch weiter, und dann wußte ich, wer die Gitarrenspielerin war. Sie war die Nagual-Frau; das wichtigste Wesen auf Erden für la Gorda und mich. Sie war das weibliche Pendant zum Nagual-Mann - nicht seine Frau oder Freundin, sondern sein Gegenstück. Sie hatte die Leichtigkeit und Beherrschung einer wahren Führerin.
    Da sie eine Frau war, hatte sie uns genährt.
    Ich wagte nicht, meine Erinnerung allzu weit zu verfolgen. Intuitiv wußte ich, daß ich nicht die Kraft hatte, der vollen Besinnung standzuhalten. Ich blieb auf der Ebene der abstrakten Gefühle stehen. Ich wußte, sie war die Verkörperung der reinsten, unbefangensten und tiefsten Liebe. Es wäre richtiger, wenn ich sagte, daß la Gorda und ich die Nagual-Frau mehr als das Leben selbst liebten. Was in aller Welt war mit uns geschehen, daß wir sie vergessen konnten?
    In dieser Nacht, während ich auf meinem Bett lag, geriet ich so in Erregung, daß ich um mein Leben zu fürchten begann. Ich fing an ein paar Worte zu summen, die für mich ein Leitmotiv geworden waren. Und erst als ich mich wieder beruhigt hatte, erinnerte ich mich, daß diese Worte, die ich mir immer wieder vorgesagt hatte, ebenfalls eine Erinnerung waren, die mir in dieser Nacht wiedergekehrt war: die Erinnerung an eine Formel, an eine Beschwörung, die mich über einen inneren Aufruhr, wie ich ihn gerade erlebt hatte, hinweghelfen konnte.

    Ich bin bereits der Kraft hingegeben, die mein Schicksal regiert.
    Und ich hänge an nichts, darum will ich nichts zu verteidigen haben.
    Ich habe keine Gedanken, darum will ich sehen.
    Ich fürchte nichts, darum will ich mich an mich erinnern.

    Die Formel hatte noch eine weitere Zeile, die mir damals unverständlich erschienen war.
    Abgelöst und mit Leichtigkeit Werde ich an dem Adler vorbeifliegen, um frei zu sein.
    Vielleicht diente mir der Umstand, daß ich krank war und fieberte, nun irgendwie als Polster; vielleicht genügte er, um die volle Wucht dessen, was ich getan hatte,

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