Die Kunst des Pirschens
alle Dinge möglichst kurz anzublicken. Sobald man sich auf etwas Bestimmtes konzentriert, verliert man die Kontrolle.
Die letzte allgemeine Aufgabe, die er mir stellte, war, aus meinem Körper hinauszutreten. Zum Teil war es mir schon gelungen, und ich hatte es immer für meine einzig wirkliche Leistung beim Träumen gehalten. Don Juan war fortgegangen, bevor ich im Träumen das Gefühl, ich könne während des Träumens mit der Welt der alltäglichen Dinge umgehen, vervollkommnet hatte. Sein Verschwinden unterbrach eine Entwicklung, die, wie ich meinte, zu einem unvermeidlichen Übergreifen meiner Traum-Zeit auf meine Alltagswelt führen mußte.
Um zu erläutern, was die Kontrolle der zweiten Aufmerksamkeit bedeutet, führte Don Juan das Konzept des Willens ein. Der Wille, so sagte er, könne als maximale Kontrolle der Leuchtkraft des Körpers als eines Energiefeldes bezeichnet werden, oder als ein bestimmtes Maß an erreichter Leistung, oder als Daseinszustand, der abrupt, zu jeder beliebigen Zeit im täglichen Leben eines Kriegers eintreten kann. Er wird erlebt als Kraft, die von der Körpermitte ausstrahlt, und zwar im Anschluss an einen Augenblick der absoluten Stille oder einen Augenblick schieren Entsetzens oder tiefster Traurigkeit; nicht aber nach einem Augenblick des Glücklichseins, denn das Glück ist zu unbeständig, als daß es dem Krieger die Konzentration erlaubte, die er braucht, um die Leuchtkraft des Körpers zu nutzen und sie in Stille zu verwandeln.
»Der Nagual hat mir gesagt, daß die Traurigkeit einem Menschen ebenso viel Kraft geben kann wie die Angst«, sagte la Gorda. »Die Traurigkeit bringt einen Krieger dazu, blutige Tränen zu weinen. Beides kann den Augenblick der Stille herbeiführen: Oder die Stille kommt von selbst, weil der Krieger sie sein Leben lang gesucht hat. «
»Hast du selbst jemals diesen Augenblick der Stille erlebt?“ fragte ich.
»Das habe ich, gewiß doch, aber ich kann mich nicht erinnern, wie es ist«, sagte sie. »Du und ich, wir haben ihn beide schon verspürt, und doch hat keiner von uns eine Erinnerung daran.
Der Nagual sagte, es ist ein Augenblick der Schwärze, ein Augenblick noch tieferer Stille als der Augenblick, in dem man den inneren Dialog anhält. Diese Schwärze, diese Stille läßt die Absicht entstehen, die zweite Aufmerksamkeit zu steuern, sie zu beherrschen, sie Dinge tun zu lassen. Das ist der Grund, warum sie der Wille genannt wird. Die Absicht und die Wirkung sind Wille der Nagual sagte, sie gehören zusammen. Das alles sagte er mir, als ich versuchte, im Träumen fliegen zu lernen. Die Absicht zu fliegen bewirkt das Fliegen.«
Ich sagte ihr, daß ich selbst schon fast nicht mehr mit der Möglichkeit rechnete, jemals den Willen zu erfahren.
»Du wirst ihn erfahren«, sagte la Gorda. »Die Schwierigkeit liegt darin, daß du und ich nicht genügend geschärft sind, um zu wissen, was mit uns geschieht. Wir fühlen unseren Willen nicht, weil wir meinen, er sollte etwas sein, von dem wir mit Sicherheit wissen, daß wir's tun oder fühlen, wie etwa, wenn wir wütend werden. Der Wille ist sehr leise, fast unbemerkbar. Der Wille gehört zum anderen Selbst.«
»Zu welchem anderen Selbst, Gorda?« fragte ich.
»Du weißt doch, wovon ich spreche«, erwiderte sie brüsk. Wir sind in unserem Selbst, wenn wir das Träumen tun. Wir sind jetzt schon unzählige Male in unser anderes Selbst eingegangen, und doch sind wir noch nicht vollständig.«
Nun entstand ein langes Schweigen. Ich mußte mir eingestehen, daß sie recht hatte, wenn sie sagte, daß wir noch nicht vollständig wären. Ich verstand es in dem Sinn, daß wir lediglich Lehrlinge einer unergründlichen Kunst waren. Dann aber kam mir der Gedanke, daß sie vielleicht etwas anderes meinte. Es war kein rationaler Gedanke. Zuerst empfand ich so etwas wie ein Prickeln, eine Empfindung in meinem Solarplexus, und dann hatte ich den Gedanken, daß sie möglicherweise von etwas anderem sprach. Als nächstes fühlte ich die Antwort. Sie kam mir in einem Block, irgendwie an einem Stück. Ich wußte, daß alles auf einmal da war, zuerst an der Spitze meines Brustbeins, dann in meinem Kopf. Mein Problem war nur, daß ich das, was ich wußte, nicht rasch genug entwirren konnte, um es in Worte zu fassen.
La Gorda unterbrach meinen Denkprozeß nicht durch weitere Bemerkungen oder Gesten. Sie war vollkommen still und wartete. Sie schien in so hohem Maß innerlich mit mir verbunden, daß es nicht nötig
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