Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
Cross Road.
Hammer beugte sich zu Webster vor und sagte spöttisch in einem lauten Flüsterton: »Das ist also dein unheimlicher Freund.«
2
Als Junge war Webster bis zum Stimmbruch Chorknabe gewesen, und er wusste noch, was für eine Wirkung die kirchlichen Rituale auf ihn gehabt hatten, auch wenn die kirchliche Lehre vor langer Zeit ihren Einfluss auf ihn verloren hatte. Einige der Geschichten von damals waren ihm im Gedächtnis hängen geblieben; an die Handlung konnte er sich zwar nur vage erinnern, aber die Atmosphäre – die lichte, unerschütterliche Klarheit des Alten und Neuen Testaments – war ihm nach wie vor präsent, und er konnte sich gut daran erinnern, welche Gefühle sie in ihm ausgelöst hatte: Schmerz, Schuld und Mitleid, eins mit allen Sündern der Welt. Im Alter von zwölf Jahren hatte man ihn gebeten, am Karfreitag als Messdiener zu assistieren, was eine große Ehre war, und während er dem Pfarrer von einer Station des Kreuzwegs zur nächsten folgte, musste er sich immer wieder in die zarte Haut seines Oberarms kneifen, damit ihm nicht die Tränen kamen.
Zwischen ihm und dieser gläubigeren und womöglich besseren Inkarnation seiner selbst lagen fünfundzwanzig Jahre. Und zehn Jahre waren es, seit er Russland verlassen hatte und die letzten Spuren seines Glaubens erloschen waren. In dieser Zeit hatte er sich mit seiner Frau ein glückliches, ausgefülltes Leben aufgebaut, für das er sich jeden Tag bedankte. Bei niemand Bestimmtem, einfach so, und bis zu diesem Jahr hatte er sich kaum je Gedanken gemacht, an wen sein Dank eigentlich gerichtet war. Seit Locks Beerdigung jedoch geisterten immer wieder Szenen aus seiner frühen Kindheit durch seinen Kopf, sodass er sich fragte, ob es sich dabei um eine Botschaft handelte oder um einen Akt der Gnade; ob sie ihm irgendetwas mitteilen oder seinem Unterbewusstsein nur auf geheimnisvolle Weise Trost spenden wollten.
Lock war kurz vor Weihnachten gestorben. Die Beerdigung, der Webster heimlich beigewohnt hatte, war am Heiligabend gewesen, und für den Rest des Winters und den ganzen Frühling über hatte sein Tod Webster unaufhörlich beschäftigt. Die Deutschen wollten, dass er zurückkam, damit sie ihn erneut befragen konnten und damit er im Zuge der gerichtlichen Untersuchung als Zeuge aussagte – die erwartungsgemäß zu dem Ergebnis kam, Lock sei in Berlin von »finsteren Mächten« umgebracht worden, die eigentlich seinen Klienten, Konstantin Malin, hatten ermorden wollen. Obwohl es nicht im Bericht stand, das wusste Webster, war eine der wenigen Schlussfolgerungen, die man aus dem ganzen Vorfall ziehen konnte: Ohne seine Einmischung wäre Lock noch am Leben.
Darum war es vielleicht nicht verwunderlich, dass seine Seele nach Trost suchte. Schön, er konnte nichts dagegen tun. Aber er wollte nicht getröstet werden. Er wollte nichts weiter als arbeiten, sich konzentrieren und ein guter Vater sein – und die Zeit und das Schicksal entscheiden lassen, ob er das Richtige tat oder nicht.
Drei Tage vor Mehrs Gedenkgottesdienst, an einem dunklen, regnerischen Nachmittag Anfang Mai, der eher an einen Wintertag als ans Frühlingsende erinnerte, hatte Webster in einem Konferenzraum in der Nähe der St Paul’s Cathedral gesessen und einem Private-Equity-Unternehmen seine Ermittlungsergebnisse präsentiert. Durch die Glasfront, die über eine Seite des Gebäudes verlief, konnte er auf der Treppe der Kathedrale ein paar vereinzelte Touristen erkennen und die frisch geputzten Steine der Fassade, die im Regen glänzten, darüber die riesige Kuppel, und jenseits des Flusses durchschnitt der mattbraune Bankside Tower die grauen Umrisse der fünfzehn Kilometer entfernten Sydenham Hills. Es war eine großartige Aussicht, selbst in der Dämmerung, und ein großartiger Hintergrund für zwei junge Männer in Anzügen, von denen einer sich Notizen machte, während der andere einen Handtrainer bearbeitete (er hatte erklärt, das sei Teil seiner Therapie nach einem Boxunfall). Offensichtlich waren sie genauso begeistert wie Webster, hier zu sein.
Vier Wochen zuvor hatten sie ihm einen Routineauftrag erteilt: Er sollte klären, ob ein Mann namens Richard Clifford, mit dessen Firma sie an die Börse gehen wollten, sauber sei. Sie sollte nächsten Monat zugelassen werden, und da der Markt gerade ruhig war und die Firma bekannt, würde, so hatte man Webster erklärt, alle Welt genau hinsehen.
Clifford hatte einen unbescholtenen Ruf, und sein offizieller
Weitere Kostenlose Bücher