Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
vor Energie. Laut den Artikeln, die Webster gelesen hatte, war er einundsechzig, doch er bewegte sich und redete mit der Energie eines jungen Mannes; die Wangen unter seinem Bart waren straff, seine Augen funkelten klar, und er hatte die Haltung eines Sportlers, als wäre jede Faser seines Körpers nur vorübergehend im Ruhezustand.
Webster hatte das Gefühl, auch wenn er nicht recht wusste, warum, dass Qazai kein Privatleben hatte. Er führte ein öffentliches Leben, und es gefiel ihm. Man musste sein Gesicht sorgfältig studieren, um den geringsten Hinweis darauf zu finden, was sich in seinem Innern abspielte: An seinen Augen und ihren Fältchen konnte man seine Erfahrung – hart erkämpft und gut gehütet – ablesen und eine Wachsamkeit, die darauf hindeutete, dass es dauerte, bis er jemandem vertraute.
»Meine Herren, das Restaurant wird Ihnen gefallen. Seit fünfundzwanzig Jahren komme ich einmal pro Woche hierher. Es ist kein Luxusrestaurant, aber glauben Sie mir, die Luxusrestaurants haben da etwas falsch verstanden. Hier gibt es echtes iranisches Essen.« Er nahm eine weitere Olive und lächelte gütig. Wie ein König, der sich dazu herabließ, sein Volk zu beehren, dachte Webster, behielt es jedoch für sich.
Während er weiter seine Gäste anlächelte, schüttelte Qazai seine Serviette aus, und die anderen taten es ihm gleich. Hammer nahm seine und stopfte sie wie immer in seinen Hemdkragen, eine Angewohnheit aus New Yorker Zeiten, die, wie er behauptete, einfach praktisch war, ihm aber offenbar Freude bereitete; Senechal seinerseits entfaltete behutsam seine Serviette und breitete sie akkurat auf seinem Schoß aus. Mehrere Kellner traten an den Tisch und schenkten Wasser ein.
»Es war ein schöner Gottesdienst«, sagte Hammer.
»Nicht wahr? Erst recht, weil er so traurig war. Danke, dass Sie diese Geduld mit mir hatten. Ich dachte, wir könnten zusammen hierherfahren, doch ich musste mit den Gästen reden. Es hat mich gerührt, dass so viele Menschen gekommen sind.«
Mit einem respektvollen Nicken signalisierte Hammer, dass er Verständnis dafür hatte.
»Was glauben Sie, wie ist er gestorben?«, sagte Webster und spürte, dass Hammer ihm wegen seiner Offenheit einen strengen Blick zuwarf.
»Wie ein Held. Oder wie ein Hund. Das überlasse ich Ihnen.« Qazai blickte Webster für einen Moment in die Augen. »Mr. Webster, im Iran sind selbst die einfachsten Dinge kompliziert. Irrsinnig kompliziert. Die Lage war früher schon schwierig, aber inzwischen ist sie vollkommen verfahren. Der Ausdruck ›Arabischer Frühling‹ gefällt mir nicht. Meine Landsleute sind keine Araber. Aber wir werden alle in einen Topf geworfen von diesen – diesen jämmerlichen Leuten. Von diesen bösen, jämmerlichen Leuten.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Sie waren mal Journalist, oder?« Webster schaute ihm unverwandt in die Augen und nickte. »Im Iran ist so eine einfache Sache – irgendetwas herauszufinden und die Öffentlichkeit davon zu informieren – nicht möglich. Journalisten sind dort Handlanger des Staates, oder sie wurden eingeschüchtert oder sitzen im Gefängnis.« Er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Sie verstehen also, dass es ganz ausgeschlossen ist, dort irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Offen gesagt, herauszufinden, was mit Cyrus passiert ist … Sie kennen Russland. Im Iran läuft es ähnlich. In solchen Ländern kommen gewisse Dinge nie ans Tageslicht. Und ich fürchte, dass es in diesem Fall genauso ist.«
»Würden Sie es denn gerne wissen?«
Qazai presste die Lippen zusammen, seine Augen verloren ihren Glanz, und für einen Moment dachte Webster, er würde gleich die Beherrschung verlieren; doch er fasste sich wieder, und sein Lächeln kehrte zurück. »Wenn der erste Auftrag abgeschlossen ist, Mr. Webster, schicke ich Sie vielleicht nach Isfahan, um es herauszufinden.« Er lächelte immer noch.
Zwei Kellner mit Tabletts voller Essen betraten das Zimmer: darauf kleine Teller mit geräucherter Aubergine und Spinat in Joghurt; drei Schüsseln, eine mit Walnusshälften, eine mit geräuchertem Fisch und eine mit geschälten Favabohnen; ein Korb mit hauchdünnem Fladenbrot; und ein Teller mit Radieschen, Frühlingszwiebeln, dunkelroten Tomaten, buschigen grünen Koriandersträußen, Estragon und Minze. Qazai reichte Hammer das Brot und forderte sie auf, sich zu bedienen, während Webster ihn beobachtete und sein inneres Strahlen bewunderte.
»Nun,
Weitere Kostenlose Bücher