Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
Temperatur hier immer ein paar Grad unter dem Schnitt lag. Selbst im Mai war es noch regelrecht frostig, erst ab August, vielleicht schon ab Juli, wurde es ein wenig wärmer, und dann kamen die Badegäste – bis Oktober, wenn es abkühlte und sich der See wieder leerte. Es gab niemanden, der nur gelegentlich im kalten Wasser schwamm. Heute waren höchstens ein halbes Dutzend Leute hier, und keiner schenkte den anderen Beachtung.
Das Wasser warf ihn jedes Mal auf sich selbst zurück. In der Umkleidekabine streifte er seine Kleidung ab, und als er in das unbewegte grün-schwarze Wasser glitt, fiel alles andere von ihm ab. Die Kälte ließ keinen Raum für Gedanken. Diszipliniert zog er seine Bahnen, saugte den Sauerstoff tief in seine Lungen, brachte seinen Kreislauf auf Touren. Aber eigentlich kam er nicht wegen des Schwimmens her: Sobald er eintauchte, waren all die widersprüchlichen Gedanken in seinem Kopf wie weggeblasen, und wenn sie wiederkehrten, hatten sie sich verändert. Sie waren dann klar und geordnet. Fügten sich zusammen.
Mit mechanischen Kraulbewegungen schwamm er zügig zwischen den Ufern des Badesees hin und her, und abgesehen von den Orgelklängen und Bildern des gestrigen Tages war sein Kopf leer. Qazai auf der Kanzel; Senechal, der kerzengerade dasaß, ohne sein Essen anzurühren; Qazais aufgesetztes Lächeln mit einem Anflug von, was eigentlich? Überlegenheit. Oder Gefahr.
Hammer mochte Qazai, das war nicht zu übersehen. Als Webster Ike Hammer kennengelernt hatte, glaubte er, dass dieser von zwei Eigenschaften bestimmt wurde: Logik und der Leidenschaft für das Spiel. Für das Spiel und den Krieg. Er lebte alleine, und wenn er nicht arbeitete oder durch den Hampstead Heath joggte, dann las er – unzählige Bücher zur Militärgeschichte und zur Theorie des Spiels, Berichte über politische Auseinandersetzungen und Machtkämpfe zwischen Unternehmen, Biografien von Generälen, Politikern und Revolutionären. Das Buch, auf das er sich am häufigsten bezog, war die zwanzig Zentimeter dicke Ausgabe von The Campaigns of Napoleon , die er so sehr liebte, dass er zwei Exemplare davon besaß, eine im Büro und eine zu Hause in seinem Arbeitszimmer. Doch seine größte Leidenschaft galt dem Boxsport, der reinsten Form des Wettkampfs. Er hatte in seinem Haus zwar keinen Fernseher, aber auf seinem Computer schaute er sich alte Boxkämpfe an, und wenn es jemandem gelang, ihn aus der Reserve zu locken, konnte er einen stundenlang mit den Verdiensten seiner vier Lieblingsboxer unterhalten: Muhammad Ali, Jack Johnson, Sugar Ray Robinson und Joe Louis. Robinson war für ihn die Nummer eins: »Intelligenz ist Kraft stets überlegen«, erklärte er, was man als Zusammenfassung seiner persönlichen Überzeugungen betrachten konnte. Eine der seltenen Gelegenheiten, bei der Hammer die Beherrschung verlor, hatte Webster erlebt, als ein Kollege meinte, es sei barbarisch, nur so zum Spaß aufeinander einzuprügeln.
Trotzdem – und Webster hatte eine Weile gebraucht, um das zu erkennen – war Hammer kein kalter Mensch. Er mochte die Menschen, vor allem liebte er es, sich mit ihnen angeregt und ausführlich zu unterhalten, darum war es ihm gestern Abend, als er Qazai und Senechal unauffällig in die Mangel genommen hatte, nicht nur darum gegangen, Informationen aus ihnen herauszuholen, sondern auch um sein Vergnügen. Bevor er Ikertu gegründet hatte, war er Journalist gewesen, und zwar ein guter. Seine Artikel, die Webster im Laufe der Jahre aufgestöbert hatte, umfassten ein breites Spektrum, von politischen Skandalen über Firmenkorruption bis hin zu schnörkelloser Kriegsberichterstattung während eines längeren Afghanistan-Aufenthalts. Und seine Artikel waren voller Mitgefühl. In seinen ersten paar Monaten bei der Firma hatte Webster geglaubt, dass ein guter Kampf Ike allein um des Kampfes willen Spaß bereitete, und fand seine Begeisterung makaber, doch inzwischen war ihm klar geworden, dass ihm eine Auseinandersetzung nicht bloß intellektuelle Befriedigung verschaffte (denn jede Auseinandersetzung war komplex und einem ständigen Wandel unterworfen), sondern dass er darin auch eine Möglichkeit sah, die Menschen von ihrer besten und ihrer schlimmsten Seite kennenzulernen. Aber vor allem war Hammer es gewohnt, das Leben in seinen extremen und überhöhten Momenten wahrzunehmen, und darum war er ungeduldig, wenn er es mit alltäglichen Dingen zu tun hatte. Und aus diesem Grund, davon war Webster
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