Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
Volkskommissare keine Mitglieder der Weißen Armee. Im Iran jedoch funktionierte die Politik nach archaischen, komplizierten Spielregeln, denn obwohl die Revolution umfassend und unbarmherzig war und obwohl fast jeder, der im alten Regime einen wichtigen Posten bekleidet hatte, geflohen oder getötet worden war, hatte es in einer gewissen Institution ein Mann irgendwie geschafft, seinen Posten zu behalten, und wurde von seinen neuen Herren in finsteren Zeiten willkommen geheißen, und diese Institution war die Geheimpolizei.
Der eine oder andere niederrangige Offizier aus ihren Reihen machte ebenfalls einen Karrieresprung – schließlich waren erfahrene Leute schwer zu finden –, doch Kamal Nezam war ein ranghoher Mitarbeiter, der stellvertretende Leiter des Dienstes, der für den Schah die Aufständischen im Zaum gehalten hatte, und in den Augen des Ajatollahs hätte er am meisten von allen einen baldigen und öffentlichen Tod verdient gehabt. Aber entweder war er bereits damals ein Verräter oder aber er wusste nur zu gut, wie wertvoll er für eine Regierung sein würde, die die Menschen, die sie gerade befreit hatte, unbedingt kontrollieren wollte, denn er blieb auf seinem Posten und vollzog reibungslos den Wechsel vom Dienst des Schahs zum Dienst der Revolution, vom SAVAK zum SAVAMA, von einem unheimlichen Akronym zum anderen.
Welchen Weg er auch immer eingeschlagen hatte, Nezam war kein Idealist. Er war ein hoch qualifizierter Fachmann, der eine kleine, effiziente, brutale Behörde aufbaute, in der sich viele der Eigenschaften der Revolution widerspiegelten; einer seiner ersten heiklen Aufträge bestand darin, für die neue Regierung eine Möglichkeit zu finden, ihr Geld anzulegen. Damals war der Iran zwar nicht reich, aber auch nicht arm: Das Land verdiente immer noch durch den Ölexport, gab jedoch das meiste Geld für den Krieg gegen den Irak aus. Trotzdem hatte es genug, um für seinen jungen, ehrgeizigen Auslandsgeheimdienst etwas auf die Seite zu legen, oder für Operationen außerhalb seiner Grenzen, oder vielleicht damit die Regierung sich etwas davon in die eigenen Taschen stopfen konnte. Und sie wollte, dass ihr Geld sich vermehrte, was es nicht tat, solange es auf einer vor Kurzem verstaatlichten Bank in Teheran herumlag. Also war Nezam nach Paris gefahren, um sich mit einem alten Freund zu treffen, und dieser alte Freund hatte ihm vorgeschlagen, es bei Parviz Qazai zu versuchen, der vor Kurzem nach London gegangen war und dort eine kleine Bank gegründet hatte, die für ihre Zwecke womöglich infrage käme.
An dieser Stelle machte Qazai eine Pause. Er leerte sein Glas Wasser, wirbelte kurz das Eis darin herum, stellte es ab und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war klar, kaum ein Wölkchen war zu sehen, und Webster, der in Flugrichtung saß, konnte die Westküste Marokkos, die sich vor ihm erstreckte, erkennen, und in der Ferne, durch den Dunst gerade noch sichtbar, den Süden Spaniens und die dicht beieinanderliegenden Spitzen der Straße von Gibraltar. Qazai hatte inzwischen geduscht und einen weiten grauen Pyjama angezogen, in dem er aussah, als würde er gleich anfangen zu meditieren, und obwohl er abgespannt wirkte – irgendwie blass unter der braunen Haut –, war er bei klarem Verstand und erzählte seine Geschichte mit einer merkwürdigen, verzweifelten Sorgfalt, ja, fast mit Genuss. Webster war davon ausgegangen, dass er die Wahrheit aus ihm herausquetschen müsste, doch er hatte lediglich gefragt, was wirklich Sache sei, und nach einem kurzen Zögern und einem tiefen, sorgenvollen Atemzug hatte Qazai angefangen zu erzählen; obwohl er müde war, wählte er seine Worte wohlbedacht, als würde er ein Stück Geschichte schildern, das vollkommene Klarheit verdient hatte.
Aus irgendeinem Grund hatte er jetzt innegehalten, und für vielleicht eine halbe Minute schloss er die Augen, bevor er weitererzählte.
»Jahrelang habe ich mich gefragt … Ich habe versucht, meinem Vater die Schuld dafür zu geben. Er war kein schlechter Mensch. Ich denke, es fehlte ihm an Intelligenz. Wäre er intelligenter gewesen, hätten seine Ängste nicht so viel Raum eingenommen. Und als er nach London ging, davon muss ich ausgehen, hatte er wirklich Angst. Etwa um meine Zukunft.« In seinem unterdrückten Lachen lag ein ironischer Unterton. »Aber ich denke, wir sind uns wohl einig, dass er ideale Bedingungen für mich geschaffen hat.«
Webster versuchte, weder einen verständnisvollen noch wertenden
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