Die Kunst des Träumens
folgerte Don Juan. »Du mußt noch weiter dein Leben rekapitulieren.«
»Ich habe doch soviel rekapituliert, wie ich nur konnte«, beharrte ich.
»Und ich rekapituliere schon seit Jahren. Es gibt nichts mehr in meinem Leben, woran ich mich noch erinnern könnte.«
»Es muß noch mehr geben«, sagte unerbittlich, »sonst würdest du nicht schreiend erwachen.«
Die Vorstellung, noch weiter mein Leben rekapitulieren zu müssen, gefiel mir gar nicht. Ich hatte es ja getan, und ich glaubte es so gut getan zu haben, daß ich mich nie wieder damit befassen müßte.
»Die Rekapitulation unseres Lebens endet niemals, ganz egal, wie gut wir es getan haben«, sagte Don Juan.
»Der Grund, warum es normalen Menschen beim Träumen an Willenskraft fehlt, ist, daß sie niemals rekapituliert haben - und ihr Leben daher randvoll ist von schwer befrachteten Emotionen. Erinnerungen, Hoffnungen, Befürchtungen und so weiter.
Zauberer hingegen sind aufgrund ihrer Rekapitulation relativ frei von befrachteten und bindenden Emotionen. Und wenn etwas sie aufhält, wie du jetzt aufgehalten wirst, ist jedenfalls anzunehmen, daß es immer noch etwas Ungeklärtes bei ihnen gibt.«
»Das Rekapitulieren geht zu stark an meine Substanz. Don Juan.
Vielleicht gibt es etwas anderes, was ich tun könnte?«
»Nein, gibt es nicht. Rekapitulation und Träumen gehen Hand in Hand. Während wir unser Leben zurückspulen, werden wir immer leichter und unbeschwerter.«
Über diese Rekapitulation des eigenen Lebens hatte Don Juan mir sehr ausführliche und genaue Anweisungen gegeben. Sie bestand darin, alle Erfahrung des Lebens noch einmal nachzuerleben, indem man jede noch so kleine Einzelheit erinnerte. In solcher Rekapitulation sah er den entscheidenden Faktor bei der energetischen Neubestimmung und Neugestaltung eines Träumers.
»Die Rekapitulation setzt Energie frei, die sonst gefangen ist; und ohne diese befreite Energie ist Träumen nicht möglich.« Das war sein Standpunkt.
Vorjahren einmal hatte Don Juan von mir verlangt, ein Verzeichnis von allen Leuten anzulegen, die ich in meinem Leben kennengelernt hatte, angefangen mit der Gegenwart. Er half mir, dieses Verzeichnis in eine ordentliche Reihenfolge zu bringen, und unterteilte sie in Tätigkeitsbereiche wie Arbeitsplätze, die ich gehabt hatte, Schulen, die ich besucht hatte, usw. Dann hielt er mich an. von der ersten Person meiner Liste ausnahmslos bis zur letzten fortschreitend, jede meiner Interaktionen mit diesen Leuten nachzuerleben.
Das Rekapitulieren eines Ereignisses, erklärte er, beginnt damit, daß man im Geist alles zusammenstellt, was mit dem zu rekapitulierenden Ereignis zusammenhängt. Solches Zusammenstellen bedeutet, das Ereignis zu rekonstruieren, Stück um Stück, angefangen bei der Erinnerung an physische Details der Umgebung, dann fortschreitend zu der Person, mit der man es bei der Interaktion zu tun hatte, bis man zu sich selbst gelangt, um seine eigenen Gefühle zu untersuchen.
Don Juan lehrte mich auch, die Rekapitulation mit einer natürlichen, rhythmischen Atmung zu kombinieren. Langsam ausatmend, wird der Kopf langsam und sachte von rechts nach links bewegt; und langsam einatmend, schwenkt der Kopf wieder von links nach rechts. Dieses Schwenken des Kopfes nannte er das »Entfächern des Ereignisses«. Dabei wird das Ereignis in Gedanken durchgespielt, von Anfang bis Ende, während der Körper immer wieder entfächert, worauf unser Geist sich konzentriert.
Don Juan sagte, daß die Zauberer der Vorzeit, als Erfinder der Rekapitulation, das Atmen als magischen, lebenspendenden Akt betrachteten und es entsprechend als magisches Vehikel nutzten. Das Ausatmen diente dazu, die fremde Energie auszustoßen, die während der rekapitulierten Interaktion in ihnen zurückblieb, und das Einatmen dazu, die Energie zurückzuholen, die sie selbst während der Interaktion zurückgelassen hatten. Aufgrund meiner wissenschaftlichen Ausbildung faßte ich die Rekapitulation als Selbstanalyse des eigenen Lebens auf. Don Juan aber beharrte darauf, daß es mehr sei als eine intellektuelle Psychoanalyse. Er bezeichnete die Rekapitulation als einen Trick der Zauberer, um eine winzige, aber dauernde Verschiebung des Montagepunkts zu bewirken. Unter dem Eindruck einer solchen Überprüfung der Vergangenheit, sagte er, wechselt der Montagepunkt zwischen seinem gegenwärtigen Platz und dem Platz hin und her, den er einnahm, als das rekapitulierte Ereignis stattfand. Die Begründung der
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