Die Kunst engagierter Gelassenheit
zusammen.
Das Sprechen und Schreiben über das Loslassen kann zynisch und verletzend wirken. Viele reagieren auf das Thema allergisch und ertragen das Gerede übers Loslassen kaum mehr. Letzthin besuchte die Leiterin eines Sterbehospizes in Süddeutschland einen Kurs bei mir. Sie beklagte, dass man von Sterbenden und Trauernden ständig verlange, sie sollten einander loslassen. Dabei gehe es doch nicht ums Loslassen, sondern darum, einander im Herzen einen Platz zu geben, wenn uns das Leben unsere Lieben entreißt. Beim Thema Loslassen geht es tatsächlich darum, den Menschen und Dingen in uns den richtigen und stimmigen Platz zuzuordnen, der uns nicht besetzt und bedroht, sondern frei lässt und frei macht.
Damit das Reden über das Loslassen nicht zynisch wird, ist auch zu unterscheiden, ob wir freiwillig loslassen oder ob wir unfreiwillig loslassen müssen, weil uns jemand oder etwas genommen, geraubt, entrissen wird oder verloren geht. Als ich mit 21 Jahren in den Jesuitenorden eintrat, war mir bewusst, dass ich einiges loslassen würde. Gleichzeitig erfuhr mein Klassenkamerad Andreas die Diagnose Multiple Sklerose und wusste, dass er bald unfreiwillig Dinge würde loslassen müssen: Skifahren, Tennis und Theater spielen, reisen und vieles mehr. Hätte ich ihm über die gewonnene Freiheit durch das Loslassen geschwärmt, hätte er dies wohl als reinen Zynismus erlebt. Gelassenheit betrifft beide Formen des Loslassens:
das reaktive, unfreiwillige Loslassen im Sinn des konstruktiven Kooperierens mit dem Unvermeidlichen sowie das proaktive und freiwillige Loslassen um eines neuen und höheren Zieles willen. Im Glücksfall wandelt sich die Haltung der Menschen, die unfreiwillig loslassen müssen, ebenfalls dahin, dass sie sich neue und höhere Ziele suchen.
Unsere Mühe mit dem Loslassen scheint wie die Gelassenheit zum Teil vererbt zu sein. Ein befreundeter bald 60-jähriger Banker schreibt:
»Um gelassen zu werden, muss man loslassen können. Ich beherrsche das kaum, habe es nicht gelernt. Meine Eltern waren mir in diesem Punkt kein Vorbild. Meine Mutter konnte bis zu ihrem Tod nicht von ihrer frühesten Kindheit und Jugend loslassen. An uns Söhnen hing sie mit einer ängstlichen Liebe und ließ uns nicht gehen. Vielleicht hat sie nicht zuletzt deshalb schließlich den Freitod gewählt, weil sie den Ballast nicht mehr weiter tragen konnte. Auch mein kürzlich verstorbener 95-jähriger Vater tat sich äußerst schwer mit dem Loslassen. Auch er konnte uns nie wirklich ziehen lassen. Keine guten Voraussetzungen für Gelassenheit und Seelenruhe. «
Praktisch alle Gelassenheitshemmer haben mit der Mühe des Loslassens zu tun beziehungsweise mit der starken Macht in uns, Menschen und Dinge, Gedanken und Gefühle, Erlebnisse und Situationen festhalten zu wollen wie Briefmarken, Münzen oder Fotos in einem Album. Loslassen heißt, die Menschen und Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen und ihnen zuzubilligen, dass sie sich verändern – und zwar nicht so wie
wir es gern hätten. Unser Leben ist ein permanenter Prozess des Loslassens. Er nimmt mit der Geburt seinen Anfang, setzt sich beim Ausziehen der Kinderschuhe, dem Abschluss der Ausbildung, dem Verlassen des Elternhauses und der Pensionierung sukzessive fort und endet mit dem letzten Atemzug. Trotz unseres Wissens um diese Tatsache tun wir uns schwer, wenn wir Menschen und Sachen, Meinungen und Überzeugungen, Gewohnheiten und Sicherheiten, Aufgaben und vertraute Orte, Pläne und Träume loslassen müssen. Paradox ist, dass wir Unangenehmes noch schwerer loslassen können als Liebgewonnenes. An Ärger und Wut, Verletzungen und Enttäuschungen, Grübeleien und Selbstzweifeln halten wir stärker fest als an Erfolgen und Geschenken, Lob und Träumen.
Loslassen an sich ist kein Selbstzweck, sondern soll uns behilflich sein, im Leben vom Nehmen zum Geben, vom Vielen zum Wesentlichen zu gelangen. Loslassen ist die Voraussetzung, um weiter gehen zu können und die Hände frei zu haben für Neues. »Mushin« ist der japanische Begriff für Gelassenheit und bedeutet gleichzeitig »frei sein von Fesseln«. Ziel des Loslassens ist nicht das Loslassen an sich und die Befreiung von etwas, sondern die gewonnene Leichtigkeit, Lebendigkeit und Freiheit für etwas oder jemanden: für neue Ziele und Projekte, Menschen und Dinge, Ideen und Träume. Ziel des Loslassens ist die Offenheit für den je nächsten Schritt.
Eltern müssen ihre Kinder sukzessive loslassen. Nicht um des
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