Die Kunst engagierter Gelassenheit
Loslassens willen, sondern um eine immer unabhängigere, freiere und gleichberechtigtere Beziehung zu ihnen zu
gewinnen. Altes, Vertrautes und Geliebtes lassen wir nicht in dem Sinn los, dass wir sie aus Kopf und Herz vertreiben, sondern dass wir eine neue Beziehung zu ihnen finden, die uns gleichzeitig öffnet für Neues.
Gelassenheit und die Fähigkeit zum Loslassen sind Themen der zweiten Lebenshälfte. Rilkes endet die achte Duineser Elegie mit dem Satz: »Ab 50 leben wir und nehmen immer Abschied. « Junge Menschen sind eher beschäftigt mit der Wegsuche und dem Aufbau von Partnerschaft und Familie, Karriere und Altersvorsorge. Analogien finden wir in der Pflanzenwelt: Solange eine Rose, ein Apfel oder ein Weizenkorn sich im Wachstum befindet, nehmen sie aus der Erde und der Luft alle nötigen Ressourcen auf, die sie zum Leben und Wachsen brauchen. Und irgendwann gelangen sie zur Reife und Blüte und schalten automatisch um vom Nehmen zum Geben. Die Rose leuchtet in tiefem Rot und versprüht einen verführerischen Duft, der Apfel stillt unseren Durst mit seinem süßen Saft. Und das Weizenkorn gibt seine Stärke im Mehl und Brot weiter. Der Mensch gelangt dann vom Nehmen zum Geben, wenn er bei sich angekommen ist und das Wesentliche im Leben entdeckt hat. Wir gelangen dort vom Festhalten und Anhaften zum Teilen und Freigeben, wo wir uns nicht länger über Haben und Tun, Scheinen und Müssen definieren, sondern mehr und mehr durch das Sein. Hermann Hesse drückt die Notwendigkeit des permanenten Abschiednehmens im berühmten Stufengedicht aus:
»Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit
und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben ... Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!«
Bedingungen des Loslassens
Damit wir loslassen und vom Nehmen zum Geben gelangen können, sind mehrere Voraussetzungen nötig oder zumindest hilfreich.
Erstens können wir nur das loslassen, was wir würdigen und wofür wir ein Minimum an Dankbarkeit verspüren und entwickeln können. Was ich schlecht machen muss, kann ich innerlich nicht loslassen.
Zweitens können wir nicht loslassen oder es fällt uns zumindest sehr schwer, wenn wir nicht zuvor die Erfahrung von Fülle und Liebe, von Selbstakzeptanz und Getragensein gemacht haben. Offenbar müssen wir im Leben ein bestimmtes Maß an Erfolg, Reichtum und Ehre erfahren haben, ehe wir gelassen werden können. Aber nicht jeder Reiche wird automatisch gelassen. Eine Zen-Geschichte bringt diese Wechselseitigkeit von Sicheinlassen und Loslassen wunderschön auf den Punkt:
Zwei Mönche, Tansan und Ekido, waren auf Wanderschaft. Sie erreichten einen Fluss, den sie überqueren mussten. Am Ufer stand ein schönes, junges Mädchen. Es wollte auch über den Fluss, doch es hatte sichtlich Angst davor. Ekido tat so, als nehme er das Mädchen gar nicht wahr. Denn die Mönchsregeln verboten Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Tansan
aber nahm das Mädchen wortlos auf seine Arme und trug es über den Fluss. Lange Zeit gingen die beiden Mönche danach stumm nebeneinander her. Doch irgendwann hielt Ekido das Schweigen nicht mehr aus. »Was hast du getan!«, griff er Tansan an. »Du hast gegen die Regeln verstoßen. Du hast das Mädchen berührt!« Tansan ließ sich nicht provozieren. Ganz ruhig sagte er: »Ich habe das Mädchen am Flussufer zurückgelassen. Trägst du es immer noch?«
Viertens sind zum Loslassen-Können frühere Situationen nötig oder zumindest hilfreich, wo wir erfahren durften, dass das Leben auch nach harten Schicksalsschlägen, Verletzungen und Brüchen weiter geht. Mein Freund Stephan, der in China Ethik doziert, hat früh seinen Vater verloren. Und etwas später wurde seine Schwester von einem betrunkenen Raser zu Tode gefahren. Und auch weitere Schicksale blieben dem heute 53-Jährigen nicht erspart und lassen ihn dennoch gelassen und sehr humorvoll sein: »Nachdem ich einige entscheidende Erfahrungen gemacht habe wie Morddrohungen und die Ablösung meiner Netzhaut, glaube ich behaupten zu dürften, dass ich eigentlich von allem, inklusive China, was mir am schwersten fallen würde, gut loslassen könnte.«
Was müssen wir loslassen?
Bei der Beschäftigung mit unseren Gelassenheitshemmern sind wir vielen Ängsten und Sorgen, Bedürfnissen und Gefühlen begegnet, die wir im Leben noch loszulassen haben, weil und solange sie unsere Gelassenheit und unsere
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