Die Kunst engagierter Gelassenheit
neu vom Gefühl überzeugen, im Leben zu kurz zu kommen und nicht genügend beachtet, geliebt und belohnt zu werden. Der Mystiker Niklaus von Flüe (1417 – 1487) war kein moderner Psychologe, muss aber auf Grund seines langen inneren Weges bereits klar gespürt haben, dass es in uns Abstufungen gibt zwischen dem kleinen ängstlichen Ego, den verschiedenen Ichs und Persönlichkeitsanteilen sowie dem großen göttlichen Selbst in uns, wenn er betete:
Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich führet zu dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.
Gelassen ist demnach, wer sich selbst lassen kann. Diesen Gedanken drückte auch Johannes der Täufer aus, als er auf den etwas jüngeren Jesus hinwies. Am Isenheimer Altar von Colmar ist diese Szene wunderbar dargestellt, wo Johannes mit dem Zeigefinger Jesus hinweist. In roten Lettern hat Grünewald das biblische Wort wie eine Sprechblase gemalt: »Illum oportet crescere me autem minui.« (er muss wachsen, ich aber muss abnehmen). Mit anderen Worten: Das göttliche Selbst soll sich in mir entfalten, mein kleines, ängstliches Ego aber möge sich wandeln und mich immer weniger bestimmen.
Unser eigenes Ego können wir wie alle anderen Dinge, an denen wir haften, leichter loslassen, wenn wir zuvor die Erfahrung
gemacht haben, uns selbst zu besitzen und in der Fülle zu leben. Die flämische Mystikerin, Schriftstellerin und Beginen-Oberin Hadewijch brachte den Gedanken bereits im 13. Jahrhundert auf den Punkt: »Gib alles hin, denn alles ist dein.« Wer loslassen, frei lassen und sich hingeben kann, wer nicht mehr anhaften muss und will, dem oder der liegt die ganze Welt zu Füßen. Wer sich nicht mehr ängstlich, angestrengt und selbstbezogen behaupten und möglichst positiv darstellen muss, wird wirklich gelassen.
Wunsch nach Gelassenheit
Für Buddhisten bildet das Nirwana das Heilsziel des Erlöschens und Verwehens aller Gier und Egozentriertheit. Im Nirwana wird der Zyklus von Wiedergeburten beendet. Das Nirwana ist das Ziel allen Wirkens. Gleichzeitig dürfen Buddhisten das Nirwana nicht anstreben, weil jegliches Streben die Erlösung behindert. Das gleiche scheinbare Dilemma und Paradox besteht auch beim Streben nach Loslassen und Gelassenheit. Letztlich können wir wahre Gelassenheit nicht erstreben. Sufis sprechen von »tark at-tark«: Nach dem Loslassen von Diesseits und Jenseits müssen wir auch das Loslassen selbst loslassen. Loslassen und Gelassenheit erreichen wir offenbar gerade dadurch, dass wir sie nicht erstreben. Der Holocaust-Überlebende und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, schrieb: »Wer Gelassenheit anstrebt, dem vergeht sie.«
Nicht alles und sofort loslassen!
Oft besteht unsere Aufgabe nicht im Loslassen von Menschen und Dingen, Ideen und Plänen, sondern einer neuen Zuordnung und Beziehung zu ihnen, um möglichst frei zu bleiben oder zu werden. So wie es eine falsche Gelassenheit im Sinn einer verdeckten Gleichgültigkeit gibt, existiert auch ein falsches oder allzu schnelles Loslassen. Etwa wenn wir unangenehme Menschen und Gruppen innerlich abschneiden und ausschließen oder indem wir belastende Themen und Gespräche verdrängen. Und wir lassen immer dann zu früh los, wenn wir so tun, als hätten wir Kritik und Verletzungen, Rückschläge und Schicksale bereits überwunden und verarbeitet, ehe wir den Schmerz wirklich zugelassen haben.
Wir dürfen und müssen nicht alles loslassen. Mehrere Freunde schrieben mir, dass sie Mühe hätten mit dem Loslassen von Visionen, Ideen und Träumen:
»Wirklich schwer fällt mir das Loslassen bei den großen Träumen nach mehr Friede, Gerechtigkeit auf der Welt sowie Achtsamkeit und Toleranz unter den Menschen.« (Frau, 41 Jahre)
»Ideale,Werte und Prinzipien sowie den Glauben an einen wie auch immer gearteten Sinn hinter allem kann ich nur schwer loslassen.« (Frau, 49 Jahre)
Selbstverständlich gibt es Fixierungen auf ganz bestimmte Ideen und Pläne, die uns unfrei und ideologisch werden lassen. Doch grundsätzlich gehören Visionen und Träume nicht zu den Dingen, die wir aufgeben sollten. Als ich vor 25 Jahren einen älteren Mann aus der kirchlichen Hierarchie fragte, wie
er mit seinen visionären Ideen und Plänen angesichts des Reformstaus in der Kirche umgehe, meinte er gelassen:
»Zufrieden lebt, wer die Realität annimmt wie sie ist und gleichzeitig die Träume und
Weitere Kostenlose Bücher