Die Kunst, frei zu sein
das Verlangen oder die »Jagd nach dem Gold« lange vor der Erfindung des Großkapitalismus existiert. In seiner Anatomie der Melancholie erzählt Burton, wie Hippokrates den auf einem Stein sitzenden Demokrit antrifft. Dieser liest ein Buch und seziert Tiere, um »die Ursache von Wahnsinn und Melancholie zu finden«:
Hippokrates lobte sein Unternehmen und bewunderte sein Glück und seine Muße. Und warum, gab Demokrit zurück, besitzt du diese Muße nicht? Weil mich, so Hippokrates’ Antwort, private Verpflichtungen daran hindern, denen ich um meinet- und der Nachbarn und Freunde willen nachkommen muss: Aufwendungen, Krankheiten, Gebrechen und Sterbefälle, Familienangelegenheiten und die Dienerschaft, das alles beraubt uns unserer Zeit. Bei diesen Worten brach Demokrit in nicht enden wollendes Gelächter aus, während seinen Freunden und den Umstehenden die Tränen kamen und sie seine Geisteskrankheit beklagten. Hippokrates wollte von ihm wissen, weshalb er lache. Demokrit verwies auf die Eitelkeiten und die Ziererei seiner Zeitgenossen, die sich allen tugendhaften Handelns entschlagen hätten, endlos nach Gold jagten und sich grenzenlos ihren Leidenschaften überließen, unendliche Mühen nicht scheuten, um ein bisschen Ruhm und Gunst zu erhaschen, auf der Suche nach Gold tiefe Stollen in die Erde trieben und darüber oftmals ihr Leben und ihr Vermögen verlören. . . . Von leblosen Dingen machen sie viel Aufhebens und halten Statuen, Bilder und andere bewegliche Habe für einen wichtigen Teil ihrer Schätze. Vieles davon ist teuer bezahlt, und manches Kunstwerk mit solchem Geschick angefertigt, dass nur noch die Sprache zu fehlen scheint, und doch lassen sich ihre Besitzer nur höchst ungern von Menschen aus Fleisch und Blut ansprechen. . . . Wenn ein Eber durstig ist, trinkt er, so viel er braucht, nicht mehr; und wenn sein Magen voll ist, hört er auf zu fressen. Nur wir Menschen sind maßlos in beidem wie auch in der Sinneslust, denn während die Tiere nur zu gewissen Zeiten in Brunst sind, suchen wir uns ständig zu paaren und ruinieren so unsere körperliche Gesundheit.
Große Projekte zum Goldabbau auf die Beine zu stellen und dann nichts vorzufinden ist eine exakte Metapher für heutige Wünsche und Aktivitäten. Burton sieht im »Trotz den Begierden« einen der Wege zur Freiheit. Narren sind für ihn Sklaven:
Und Cicero formuliert den paradoxen Satz: Der Weise ist frei, aber der Narr ist ein Sklave, denn Freiheit ist die Fähigkeit, unseren eigenen Gesetzen entsprechend zu leben. Wer besitzt diese Freiheit? Wer ist frei?
Der Weise, der sich selbst beherrscht,
Welchen die Armut weder, noch Tod, noch beide
erschrecken,
Trotz den Begierden zu bieten und Ehrengepräng zu verachten,
Stark, und in sich vollendet, geglättet und völlig gerundet.
Freiheit existiert mithin als Form der geistigen Selbstgenügsamkeit. Die wahrhaft Freien schließen sich der Jagd nach Reichtümern oder Ehren nicht an, weil sie wissen, dass auf diesem Pfad die Sklaverei wartet. Die wahrhaft Freien fürchten nichts. Einen ähnlichen Gedanken brachte Aldous Huxley in seinem Vorwort zur Bhagavadgita zum Ausdruck: »Es wird nie einen dauerhaften Frieden geben, es sei denn, die Menschen akzeptieren eine Lebensphilosophie, die den kosmischen und psychologischen Tatsachen angemessener ist als die irren Götzendienste des Nationalismus und der apokalyptische Glaube des Werbemannes an Fortschritt in Richtung eines mechanisierten Neuen Jerusalem.«
Die Bhagavadgita enthält kluge Ratschläge zur Arbeit und zum Schöpfergeist: »Das Wort ist in seiner eigenen Tätigkeit gefangen, außer wenn Taten zur Verehrung Gottes durchgeführt werden. Deshalb halte dich niemals für die Ursache der Ergebnisse deiner Tätigkeiten.« Kurz, wir sollten uns weniger auf den Zweck als auf die Mittel konzentrieren. Die Theorie der Begierden und der moderne Kapitalismus hingegen stellen die Mittel als unwichtig und den Zweck als wesentlich hin: »Ich mache nur meine Arbeit.« Wir sind eine zielorientierte Gesellschaft, doch wovon das Mittelalter und die Anarchisten träumen, ist ein Leben des dauerhaften Genusses statt des flüchtigen Vergnügens durch die Erfüllung eines substanzlosen Wunsches. Man braucht nicht an Gott zu glauben, um den Wahrheitsgehalt des oben angeführten Zitats in Bezug auf die Arbeit zu begreifen. Es genügt, »zur Verehrung Gottes« durch »mit Großmut« oder »mit Liebe« zu ersetzen, um die säkulare Version zu erhalten.
Die
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