Die Kunst, frei zu sein
nicht wüssten, wie sie mit der Schuld fertig werden sollen. Nichtstuend herumzusitzen erzeugt bei ihnen ein schlechtes Gewissen. Deshalb spielen sie für sich selbst die Rolle des Teufels und piesacken sich mit diabolischen kleinen Toastgabeln.
Schuldgefühle sind nutzlos. Sie lähmen uns, statt uns handlungsfähig zu machen, sind negativ und behindern uns. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass aus Schuldgefühlen heraus gefasste Vorsätze keinen Pfifferling wert sind – einfach weil ich sie dauernd breche. Und wenn wir Nietzsche Glauben schenken dürfen, dann ist Schuldbewusstsein das emotionale Gegenstück zu materiellen Schulden. Die geschäftliche Transaktion ist vielleicht sogar dem Entstehen von Schuldgefühlen vorausgegangen:
Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis, das es gibt, gehabt, in dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier maß sich zuerst Person an Person. … Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von ferne etwas davon träumen lassen, dass zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff »Schuld« seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff »Schulden« genommen hat?
Diese Erklärung für die Ursache der Schuldgefühle lässt vermuten, dass sie uns nicht angeboren sind. Außerdem bildet sich das Konzept der Schuld für Nietzsche heraus, wenn wir eine Trennungslinie zwischen Absicht und Handlung ziehen. »Das habe ich nicht gewollt«, sagen wir dann. In diesem Sinne ist Schuld völlig abstrakt, denn sie setzt voraus, dass sich Tun und Wollen voneinander unterscheiden.
Der Gedanke der Schuld beruht auf der Annahme, dass es in unserem Innern einen Bruch zwischen zwei sich bekriegenden Parteien gibt – in meinem Fall zwischen dem guten und dem bösen Tom. Der böse Tom tut etwas Schlechtes, und dann sorgt der gute Tom dafür, dass er sich auch schlecht fühlt. Eines Tages, so hoffen wir, wird der gute Tom den bösen Tom besiegen. Aber dazu kommt es nie. Also geht die Schlacht weiter und schwächt unseren Geist, und das ist einer der Gründe, warum Schuldgefühle uns ermatten.
Es ist verantwortungslos, sich wegen früherer Taten schuldig zu fühlen, denn das bedeutet, dass man wahrscheinlich die Verantwortung für seine Taten leugnet. Wenn wir sagen: »Ich fühle mich deshalb wirklich schuldig«, so distanzieren wir uns von dem Teil unserer Persönlichkeit, durch den die Sache, was immer sie war, zustande kam. Daher sind die von Schuldgefühlen Freien – und es gibt sie tatsächlich – in Wirklichkeit die verantwortlichsten und nicht die unverantwortlichsten Personen, denn wenn man die Verantwortung für seine Taten übernimmt, fühlt man sich ihretwegen nicht schuldig.
Einen Hinweis darauf, dass Schuldgefühle nicht angeboren sind, sondern durch unsere Kultur hervorgebracht werden, liefert das Beispiel der Untreue. Ein Mann, der seiner Freundin untreu ist, mag Gewissensbisse verspüren. Aber sobald er sich von ihr getrennt hat, verschwindet das Schuldbewusstsein und könnte sogar durch die entgegengesetzte Emotion abgelöst werden, das heißt durch eine gewisse Genugtuung. Offenkundig besitzen Kleinkinder ebenfalls kein Schuldbewusstsein. Es ist ein Gefühl, das wir erlernen.
In unseren intimen Beziehungen, genau wie in unserem Umgang mit der uns umgebenden Gemeinschaft, versuchen andere ständig, uns ein Gefühl der Verpflichtung aufzuzwingen. Wenn dich jemand zum Abendessen einlädt, wird erwartet, dass du den Gastgebern eine Dankeschönkarte schickst. Geschenke werden unter der unausgesprochenen Voraussetzung überreicht, dass der Empfänger eine überschwängliche Dankbarkeit zum Ausdruck bringt. Feste wie Weihnachten werden zu einem Labyrinth gegenseitiger Verpflichtungen. Unser Kopf ist so voll von den Dingen, die wir tun sollten, dass wir Gefahr laufen, die Dinge zu vergessen, die wir tun müssen. Entsprechend versenden wir Briefe aus Schuldbewusstsein und nicht, weil wir uns aufrichtig bedanken wollen, und das ist gewiss ungesund, weil der Brief zur Begleichung einer Schuld wird und nicht mehr dazu dient, Liebe oder Freundschaft auszudrücken.
Nach dem gleichen Muster wird erwartet, dass wir für unsere Sünden leiden. Im Fall von Untreue zum Beispiel soll unser Leid aus irgendeinem Grund als Buße für die Missetat dienen.
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