Die Kunst, frei zu sein
und unser Verlangen nach Bequemlichkeit uns nicht daran hindern, so zu leben, wie es uns beliebt. Hier ist Tolstois Definition:
Anarchie ist eine Regierungs- oder Verfassungsform, in der das öffentliche und private Bewusstsein, gebildet durch die Entwicklung von Wissenschaft und Gesetz, ganz allein genügt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und sämtliche Freiheiten zu garantieren. Infolgedessen verringern sich in ihr die Institutionen der Polizei, der Präventiv- und Repressionsmaßnahmen, der Bürokratie, der Besteuerung etc. auf ein Minimum. Insbesondere verschwinden die Formen der Monarchie und der intensiven Zentralisierung; sie werden ersetzt durch föderative Institutionen und eine auf der Kommune beruhende Lebensweise. Wenn Politik und häusliches Leben ein und dasselbe, wenn wirtschaftliche Probleme so gelöst worden sind, dass individuelle und kollektive Interessen übereinstimmen, dann – nachdem sich alle Zwänge aufgelöst haben – wird deutlich sein, dass wir uns in einem Zustand der uneingeschränkten Freiheit oder Anarchie befinden.
Etwas sehr Ähnliches wurde im Spätmittelalter in Gestalt des erwähnten Gildensystems erreicht, wie Kropotkin und andere aufgezeigt haben: Die einfachen Menschen erhoben sich in ganz Europa, befreiten sich von der Unterwerfung unter die Aristokratie, schlossen sich zu Gilden zusammen und gründeten ihre eigenen freien Städte. Das dreizehnte Jahrhundert erlebte eine erstaunliche Volksbewegung, die im gesamten Europa ein neues Freiheitsideal schuf. Der Philosoph und Freund von Bertrand Russell, A. N. Whitehead, behauptet, dieses Freiheitsgefühl habe sogar bis ins siebzehnte Jahrhundert angehalten:
Was die individuelle Freiheit betrifft, so war sie im Jahr 1633 in der Stadt London verbreiteter … als heute in jeder Industriestadt der Welt. Es ist unmöglich, die Sozialgeschichte unserer Ahnen zu verstehen, wenn wir die aufbrandende Freiheit vergessen, die damals in den Städten Englands, Flanderns oder des Rheintals und Norditaliens existierte. Unter dem gegenwärtigen Industriesystem geht solche Freiheit verloren. Dieser Verlust bedeutet, dass unendlich kostbare Werte aus dem menschlichen Leben entschwinden. Der unterschiedliche Einsatz individueller Temperamente findet keine Befriedigung mehr in ernsthaften Aktivitäten. Was einzig bleibt, sind die starren Bedingungen der Erwerbstätigkeit und die trivialen Vergnügungen der Freizeit.
Gesprochen wie ein Punk. Gesprochen wie ein Situationist. Also was können wir tun? Was können wir tun, um »unser Leben zurückzuholen«? Was können wir tun, um wir selbst zu sein, statt uns in ein gleichförmiges Modell zu zwängen? Zum Beispiel können wir damit anfangen, dass wir die Regierung ignorieren. Das beste Verfahren, den Staat zu zerstören, besteht darin, keine Notiz von ihm zu nehmen und zu hoffen, dass er verschwindet. Die Medien wiederholen dauernd, nicht zu wählen sei ein Zeichen von »Gleichgültigkeit«, während es für mich ein Zeichen des exakten Gegenteils ist. Wenn du, so wie ich, nicht wählst, dann ändert sich etwas Entscheidendes in deiner Psyche. Du kannst die Regierung nicht mehr für deine Probleme verantwortlich machen, da du dich ihrem System entzogen hast. Daher beginnst du – mit Kropotkin –, »für dich selbst zu handeln«. Du wirst mündig.
Der erste Schritt (und es mag der einzige sein) ist die Schaffung von Anarchie in deinem eigenen Umfeld. Beispielsweise wird zurzeit im Idler-Webforum die Herstellung unserer eigenen Energie diskutiert. Leser empfehlen einander verschiedene Mikrotechnologien für ihr Haus, welche die Abhängigkeit von den großen Versorgungsunternehmen sowie die Rechnungen verringern. Der Leser, der das Thema als Erster ansprach, schrieb:
Hier geht es darum, den Zauderern auf Regierungsebene in den Hintern zu treten und auf der Ebene des Privathaushalts, in normalen vorstädtischen und städtischen Heimen, das Machbare zu tun, um die in die Höhe schießenden Energierechnungen zu stutzen.
Eine anarchische Lebensweise ist also höchst praktisch. Sie ist billig und leicht umzusetzen. Weit davon entfernt, ein irrealer Traum zu sein, ist sie in der Praxis viel vernünftiger als die Hoffnung, dass die Behörden deine Probleme lösen werden. Herumzusitzen und auf eine Revolution zu warten dürfte ebenfalls nicht viel einbringen. Würde eine Revolution überhaupt funktionieren? Sie findet in Form einer Schlacht zwischen zwei Kräften statt. Eine von ihnen wird siegen und
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