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Die Kunst, frei zu sein

Die Kunst, frei zu sein

Titel: Die Kunst, frei zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hodgkinson
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Seltsamerweise wurde Schuld im Mittelalter durch Geldstrafen beglichen. Die Gutsverzeichnisse sind voll von Männern und Frauen, die wegen »Unzucht« eine Geldstrafe entrichten mussten. Hier sind ein paar Beispiele aus dem Foxton des vierzehnten Jahrhunderts:
    Alice Gosse trieb Unzucht mit William Overhawe; Geldstrafe von 6 Pence.
    Asselota, Tochter von Alan Asselote, trieb Unzucht als Tagelöhnerin für den Vogt.
    Alice Fenner trieb außereheliche Unzucht mit John Taylor; ihr Besitz möge gepfändet werden, bis sie die Geldstrafe begleicht.
    Damals brauchte man also nicht für seine Sünden zu leiden, sondern zahlte einfach einen gewissen Betrag in die Gemeindekasse ein. Damit war die Sache beigelegt. In ähnlicher Weise konnten sich Wucherer vor der Verdammnis retten, wenn sie die erpressten Summen vor ihrem Tod zurückzahlten. Was im Verlauf der weiteren Geschichte geschah, entspricht exakt Nietzsches Worten: Die finanzielle Wiedergutmachung von Missetaten wurde allmählich durch emotionale Mittel ersetzt; materielle Bußgelder gingen der Entstehung moralischer Sühnen voraus. Im katholischen Mittelalter bezahlte man die Geldstrafe, und das Leben ging weiter. In der puritanischen Welt dagegen konnte ein unmoralischer Akt nicht mehr durch Geld wiedergutgemacht werden; man zahlte durch Leid. Auch die Beichte reichte den Puritanern nicht. Es galt, ein besserer Mensch zu werden. Statt unsere Schulden zu begleichen, mussten wir nun, wie Christian in A Pilgrim’s Progress, die Last während unserer endlosen Suche nach Vollkommenheit auf dem Rücken tragen.
    Aber Nietzsche beharrt: »Nochmals gefragt: inwiefern kann Leiden eine Ausgleichung von ›Schulden‹ sein?« Welchen Sinn erfüllt es? Mein Leiden bringt niemandem etwas ein; es hat nicht den geringsten Nutzen. Schuldgefühle können, wie Nietzsche schreibt, gleichbedeutend mit »dem eisigen Nein des Ekels am Leben« sein – und genau daran hat mich die »Keine Macht den Drogen«- Kampagne erinnert. Wir tun etwas, das uns Spaß macht, und dann fühlt sich ein anderer Teil in uns angeekelt. Schuldbewusstsein ist ein Nein zum Leben, und alle, die von Gewissensbissen frei sind, eint eine positive Einstellung zum Leben mit all seinen Unbequemlichkeiten.
    Die meisten von uns fechten in dieser Hinsicht innere Kämpfe aus. Einmal fragte ich meine Freundin Hannah, ob sie auf die Party eines gemeinsamen Bekannten gehen wolle, die an einem Montag stattfand.
    »Ach, ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Schließlich gibt’s die Montagabend-Regel.«
    »Die Montagabend-Regel?«
    »Ja, du kennst sie bestimmt. Sie besagt, dass man an einem Montagabend nicht weggehen soll.«
    Hannah fühlte sich schuldig, weil sie sich an Wochenenden so intensiv ihrem Vergnügen überließ, und hatte die Regel als eine Art Buße für ihr zügelloses Benehmen erfunden. Sie hatte sich gespalten: in die mittelalterliche Genießerin, die sich ihres Lebens freuende Hannah einerseits und in die fleißige, jede Zerstreuung ablehnende Hannah andererseits.
    Schuldbewusstsein ist eine Erfindung, es ist etwas Künstliches. Wir lassen zu, dass wir Schuldgefühle haben. Und häufig schützen wir diese Gefühle einem Freund oder einem Feind gegenüber nur vor, damit man uns nicht bezichtigt, gedankenlos oder kaltschnäuzig zu sein. Es scheint erwartet zu werden, dass wir unser Bedauern ausdrücken. »Ich habe solch ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht zu deiner Party kommen konnte«, sagen wir zum Beispiel. Damit haben wir unser Schuldbewusstsein zum Ausdruck gebracht, und die Antwort, die wir uns erhoffen, ist oftmals prompt zu hören: »Ach, keine Sorge. Das macht doch nichts.« Die Schuld ist durch unser schlechtes Gewissen beglichen worden. Nun brauchen wir uns nicht mehr schuldig zu fühlen. Außerdem können wir anderen auf diese Weise klarmachen, dass wir moralische Menschen sind. »Ich habe ein wirklich schlechtes Gewissen, weil ich gestern Abend betrunken war«, sagen wir, obwohl wir überhaupt kein schlechtes Gewissen haben oder zumindest die Entscheidung treffen könnten, von Schuldgefühlen frei zu sein. Wenn mir jemand erklärt: »Ich habe gestern Abend zu viel getrunken«, entgegne ich immer: »Ich habe genau die richtige Menge getrunken.«
    Manche Menschen kennen keine Schuldgefühle. Sie sind sehr ungewöhnlich, denn sie eint eine Lebensbejahung in Nietzsches Sinne und ein Fehlen von Gewissensbissen, das ihnen ermöglicht zu tun, was sie wollen. Mein Freund, der inzwischen verstorbene Gavin

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