Die Kunst, frei zu sein
Freude eine Elle Jammers. Wie Efeu eine Eiche umschlingt, so ist unser Dasein von Elend umgeben.
Das allein ist Grund zum Jubeln: Wenn du deprimiert bist, fehlt dir überhaupt nichts, meint Burton. Es ist ganz natürlich!
Im Mittelalter zog man viele Verbindungen zwischen Sünde der Faulheit und der Melancholie. Die ursprüngliche Bezeichnung für die siebte Todsünde war acedia, also Trägheit des Geistes oder Traurigkeit. Dazu schrieb Thomas Pynchon 1993 in seinem Essay »Nearer, My Couch, to Thee«:
»Acedia« bedeutet auf Lateinisch: bewusst auf einen selbst gerichtete, von Gott abgelenkte Sorge, einen Verlust der geistigen Entschlossenheit, der … das hervorbringt, was zurzeit als Schuldgefühl und Depression bekannt ist, und uns schließlich so weit treibt, dass wir alles tun, … um dieses Unbehagen zu vermeiden.
Acedia war uneingeschränkte Resignation. Mit diesem Begriff beschrieb man einen Mönch, der nichts mehr für der Mühe wert hielt, seinen Glauben verlor, die religiösen Bräuche vernachlässigte und jammerte: »Ach, welchen Sinn hat das alles?«, wenn ein Glaubensbruder versuchte, ihn aus seiner Zelle zu holen. Faulheit war die schlimmste aller Sünden, da sie den Weg zu den anderen Sünden bereitete.
Mit anderen Worten, Depression galt als Sünde, was eine doppelte Belastung gewesen sein muss: Denn du warst nicht nur deprimiert, sondern dir war auch klar, dass du durch deine Depression eine Todsünde begingst. Dadurch dürfte der Betreffende noch deprimierter und damit noch sündiger geworden sein – und so weiter und so fort bis in den siebten Kreis der Hölle.
Als eine der Ursachen der Melancholie nennt Burton auch schlechte Ernährung. Schweine-, Ziegen-, Rindfleisch, Wildbret, Fisch, Hülsenfrüchte, Wurzelgemüse, Gurken, Kürbisse, Brot und Wein – alles scheint Übles bewirkt zu haben. Bier kommt vielleicht noch am glimpflichsten davon: »Es ist ein höchst gesundes (wie Polydor Vergil meint) und angenehmes Getränk …, denn der Hopfen, der es verfeinert, hat eine besondere Wirkung gegen Melancholie, wie unsere Kräuterkenner zugeben.« Ich habe ebenfalls oft festgestellt, dass Bier ein wirkungsvolles Mittel gegen schwarze Galle ist.
Eine von Burtons weiteren Lösungen ist Fröhlichkeit: »Nach meinem Urteil ist nichts so präsent, so kräftig, so angemessen wie ein Glas mit einem starken Getränk, Frohsinn, Musik und muntere Gesellschaft.« Er nennt die Musik ein prächtiges Mittel »gegen Melancholie, um die schmachtende Seele aufzumuntern und wiederzubeleben«. Hierin besteht auch die Wirkung von Jazz oder Rock ’n’ Roll oder moderner Tanzmusik. Musik lässt uns zu uns selbst finden, sie ist das genaue Gegenteil einer Ablenkung. Alle anderen Dinge sind jedoch nur Ablenkungen, weil sie mit Hoffnung oder Bedauern zu tun haben. Musik befördert uns in die Gegenwart. Sie kann uns umformen. Das beweist etwa der Blues, der Soundtrack der Sklaverei: Er macht aus dem groben Stoff des Elends etwas Gutes und Lebensbejahendes.
Eine ähnliche Einstellung zur Melancholie ist in mittelalterlichen Texten zu finden, die für eine gute Gesundheit fröhliche Gedanken empfehlen und das fördern, was die Historikerin Linda Paterson »eine vorsätzlich heitere Stimmung« nennt. Zum Beispiel schrieb Peir d’Alvernhe, ein Troubadour des dreizehnten Jahrhunderts:
Denn Trübsinn und tiefes Brüten bringen nichts Gutes oder Mutiges hervor, sondern richten nur Schaden und Zerstörung an; wie jegliche verletzende Bitterkeit aus Habgier hervorgeht, so entspringen alle finsteren Taten ständiger Verdrießlichkeit. Wer sich nach Freude sehnt, sollte deshalb auf dem geraden Pfad bleiben und Trübsinn und niederträchtige Blicke Schurken und gemeinen Flegeln überlassen.
Heute sind gute Gesellschaft, froher Mut und gutes Bier als Heilmittel verschwunden. Melancholie ist professiona- lisiert, zur Ware gemacht, industrialisiert worden. Man hat sie in einen »Zustand« verwandelt, der einer teuren chemischen Behandlung bedarf. Und die Namen der Medikamente klingen nach fernen Sternensystemen in einer Raumschiff Enterprise-Sendung. Außerweltlich, ein Manna ganz besonderer Art vom Himmel und zweifellos ohne Charme, steril, antiseptisch, kühl-rational, unromantisch, frei von Heiterkeit. Diese Pillen bringen ihren Dealern, den Arzneimittelherstellern wie GlaxoSmithKline, Wellcome, Pfizer und den Übrigen unglaubliche Gewinne ein. Depression ist ein großes Geschäft.
Im Jahr 2000 erreichte der mit
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