Die Kunst, frei zu sein
rezeptpflichtigen Antidepressiva in den USA erzielte Umsatz zehn Milliarden Dollar, und diese Zahl steigt mit jedem Jahr steil an. Man schätzt, dass jeder fünfundzwanzigste Erwachsene im Vereinigten Königreich ein Antidepressivum einnimmt; dazu kommen 60000 Kinder, der neue Markt. Es ist eine Wachstumsbranche. Beteilige dich am Geschäft mit der Depression! Kohle dank Krankheit! Bares dank Beschwerden! Das mögen vorzügliche Nachrichten sein, wenn du Vorstand oder Aktionär eines der Pharmagiganten bist, aber die ganze Misere erzeugt enorme Kosten für das Gesundheitssystem. Und richten die Medikamente irgendetwas aus? In einer noch nicht lange zurückliegenden Studie wurde die Einnahme von Antidepressiva sogar mit einem höheren Selbstmordrisiko in Verbindung gebracht. Doch damit noch nicht genug: Anscheinend nehmen so viele diese Mittel ein, dass sie durch die Ausscheidungen in den Wasserhaushalt und damit in das Trinkwasser gelangen, wodurch wir unfreiwillig zu Konsumenten von Psychopharmaka werden.
Andere Drogen wie Ativan und Alprazolam werden als Beruhigungsmittel verkauft. Natürlich verliert nie jemand ein Wort darüber, dass vielleicht nicht du selbst an deiner Depression schuld bist, sondern dass sie auf die Anforderungen zurückgeführt werden kann, die man in unserer überaus wettbewerbsorientierten, meritokratischen, geldzentrierten, gottlosen Gesellschaft an dich stellt. Ja, du bist deprimiert, aber das ist nicht deine Schuld, sondern die der dich umgebenden Umwelt. Also ändere nicht dich, um dich einer wenig hilfsbereiten Welt anzupassen, sondern ändere stattdessen dein Umfeld.
Ein Freund von mir, der unter »Depressionen« leidet, ist John Moore. In seinem Fall spricht man von »bipolarer Störung«, doch ich finde, es klingt respektvoller, nobler und angenehmer, von Melancholie zu reden. In einem früheren Buch habe ich John als den faulsten Mann der Welt beschrieben. Dabei habe ich jedoch nicht erwähnt, dass er von chronischer Schwermut geplagt wird. Seine Galle ist schwarz. Wenn seine ehemalige Frau versuchte, ihn morgens aus dem Bett zu holen, erklärte er immer: »Ich stehe auf, wenn es sich lohnt aufzustehen.« Dazu Burton: »Es ist eine zutreffende Lehrmeinung, dass ein Melancholiker gar nicht zu viel ruhen kann … und nichts die Krankheit leichter auslöst und verschlimmert als übermäßiges Wachen.« Na ja, Müßiggänger wissen Bescheid: Victoria tadelt mich täglich, weil ich beim Aufwachen zu grantig bin.
John nimmt seit über vier Jahren Antidepressiva ein. Er begann damit, wie er berichtete, weil Gruppenzwang auf ihn ausgeübt wurde; seine Melancholie machte ihn arbeitsunfähig:
Ich glaube, ich fing an, sie zu nehmen, um zu zeigen, dass ich sie einnahm, denn man erklärte mir, meine Depression sei inakzeptabel. Ich musste nachweisen, dass ich auf dem Weg war, zu einem Mitglied der Gattung der Fernsehgucker zu werden. Man muss Medikamente einnehmen, um sich Pop Idol und X Factor anschauen zu können.
Ich möchte sie absetzen, aber nun bin ich süchtig. Also müsste ich einen kalten Entzug machen, aber es ist schwierig, die erforderliche Zeit zu finden, wenn du in der Arbeitstretmühle stehst. Mein Arzt meint, es sei nicht nötig, sie abzusetzen; manche Leute würden sie ihr ganzes Leben lang nehmen.
Solche Äußerungen sind von Ärzten zu erwarten. In den Vereinigten Staaten beispielsweise gibt die Pharmaindustrie siebzehn Prozent ihres Umsatzes für Marketing und Werbung aus. 1998 waren das sieben Milliarden Dollar. Mit diesen Geldern werden hauptsächlich Golfreisen nach Barbados und ein endloser Strom von Kugelschreibern und Notizblöcken für jene von der Gemeinschaft bezahlten Drogenverkäufer finanziert, die wir Ärzte nennen.
Die mentale Wirkung ist subtil: Wenn du vorher tiefe Emotionen verspürt hast, so werden sie nun abgeflacht. Aber die Medikamente lösen das Problem nicht. Für mich sind sie wie Heftpflaster, nichts als Pfuscharbeit. Antidepressiva sind ein Synonym für Flickschusterei und Mangel an Qualität.
Die Vision von einer Welt, in der alle Antidepressiva einnehmen, ist deprimierend: Diese Medikamente glätten die Ecken und Kanten, in denen sich das Leben verbirgt. Durch sie werden dir Scheuklappen verpasst. Sie lassen alles einförmig werden, damit wir in der Gesellschaft funktionieren und weiterhin klag- und gedankenlos arbeiten können. Diese Umgestaltung wiederum macht uns krank und deprimiert, und so setzt sich der Prozess fort. Norman Mailer
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