Die Kunst, frei zu sein
schrieb, dass sich die Hipster der Vierziger gegen »einen langsamen Tod durch Konformität« wehrten, »wobei jeder rebellische und kreative Instinkt unterdrückt wurde (mit welchen Schäden für den Geist und das Herz und die Leber und die Nerven, wird keine Krebsforschungsgesellschaft je herausfinden) …«
Moore ist der Ansicht, dass wir unsere schwarze Galle akzeptieren und von ihr lernen sollten. In seinem Fall werde – so sicher wie das Frühjahr dem Winter folge – die Misere ein paar Monate dauern, wonach sich wieder eine Zeit des Glücks und der Kreativität anschließe:
Man verschafft sich so viel mehr Klarheit über die Dinge. Es ist wie beim Angeln: Du gehst unter die Oberfläche und holst Sachen heraus, die sehr nützlich sind. Es hätte keinen Keats, Byron oder Shelley gegeben, wenn sie auf Fluctin gesetzt worden wären. Die Gesellschaft braucht Manisch-Depressive, sie braucht Höhlenforscher, die Schätze aus der Unterwelt hervorholen und sie polieren und in schöne, funkelnde Dinge verwandeln.
Die orthodoxe Lösung der Tabletten und des Auslöschens berücksichtigt die Tatsache nicht, dass Melancholie erfreulich und sogar nützlich sein kann. Burtons Beschreibung jener Freuden deutet auf die romantischen Dichter hin, die in der Wildnis umherwandern und dann in Ruhe ihre Gefühle heraufbeschwören:
… zuerst ist es dem melancholisch Veranlagten höchst angenehm, ganze Tage im Bett und auf seinem Zimmer zu verbringen, in einem einsamen Hain an einem Bächlein entlangzuwandern und vergnüglichen Gedanken nachzuhängen. Es scheint ihm eine unvergleichliche Lust, sich der melancholischen Stimmung hinzugeben, in sich hineinlächelnd Luftschlösser zu bauen und sich in eine Unzahl von Rollen hineinzuversetzen und hineinzusteigern, mit denen er sich identifiziert oder in denen er andere hat agieren sehen.
Es wäre also sinnvoll, die Melancholie zu akzeptieren, statt sie zu unterdrücken. Allein die Umbenennung von Depression in »Melancholie«, ein viel anschaulicheres und ausdrucksvolleres Wort, kann zur Entschärfung der Situation beitragen. »Bipolare Störung« klingt feindlich. Melancholie dagegen hat etwas Cooles an sich: Das Wort klingt nach Kerzen, romantischer Liebe, Dachkammern, Seiten eines halb beendeten Manuskripts, die dem Schreiber aus der Hand fallen, nach sehnsüchtigem Seufzen, weiten weißen Hemden, dem Tod Chattertons, des achtzehnjährigen Dichters. Melancholie ist neu erschaffene Depression. Statt »Ich bin deprimiert« sollte man besser sagen: »Ich fühle mich heute schwermütig, also bleibe ich lieber zu Hause oder mache einen Spaziergang durch den Obstgarten.« Dann verwandele dein Elend in einen kreativen Akt.
Außerdem meine ich, dass Medikamente, Therapie und Selbsthilfebücher dem Einzelnen eine zu große Last aufbürden. Sie sagen aus, dass du durcheinander, schuldig, instabil, anomal, in einem chemischen Ungleichgewicht, extrem, verdreht bist und deshalb geheilt und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden musst. Aber könnte es nicht genauso gut der Fall sein, dass nicht das Individuum schuld ist, sondern die Gesellschaft mit ihren verfluchten Klingeltönen und ihrer Arbeitsmanie? Die Welt ist verrückt, nicht ich. Die Revolution des Individuums als Befreiung vom Kollektiv hat zur Straffung der vom Geist geschmiedeten Fesseln geführt.
Man könnte einwenden, dass ich widersprüchlich argumentiere: Erst mache ich die Gesellschaft und nicht den Einzelnen für unsere Depression verantwortlich; ich gebe dem Kapitalismus, dem Ding, dem Konstrukt, der Genossenschaft – wie immer wir es nennen wollen – die Schuld an unserem Elend; dann fahre ich fort, dass jeder Mensch selbst für sein Leben verantwortlich sei und dass die Schuldzuweisungen aufhören müssten. Das Paradoxon ist: Beide Aussagen treffen zu. Wir sind sowohl die Ursache als auch die Folge des Kapitalismus. Wenn ich die Gesellschaft beschuldige, mache ich auch dem Individuum Vorwürfe, denn wir als Individuen sind mitschuldig an der Schaffung der Gesellschaft, die uns unterdrückt. Deshalb sind wir unsere eigenen Unterdrücker, und deshalb sind wir eindeutig nicht und gleichzeitig doch auch fundamental schuld an der bestehenden Situation. Aber immerhin können wir uns andererseits zur Schaffung der guten Dinge in der Gesellschaft beglückwünschen.
Es kommt darauf an, Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln. Zu kündigen, die Stimmabgabe zu verweigern, keine Pharmadrogen zu nehmen
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