Die Kunst, gelassen zu erziehen
wir aufgewachsen sind. Und ob uns dies bewusst ist oder nicht, haben wir viele Vorstellungen und Ideen, wie ein Kind sein sollte. Und nur allzu selten berücksichtigen unsere Vorstellungen oder auch Wünsche die echten Entwicklungsbedürfnisse von Kindern. Stellen wir uns ein Mädchen vor, dessen innere Natur sehr temperamentvoll ist, das am liebsten in Jungenkleidung im Matsch und auf Bäumen spielt und lange Haare albern findet. Und stellen wir uns vor, dieses Mädchen wurde in eine Familie geboren, die sich sehnlichst ein »richtiges« Mädchen gewünscht hat, dem die Mutter hübsche Zöpfchen ins Haar flechten und niedliche Kleider kaufen kann und die von friedlichen Nachmittagen beim Puppenspiel träumt. Was bedeutet das für das innere Wesen des Mädchens? Es kann den Erwartungen seiner Eltern nie genügen, wenn es sich nicht komplett verbiegt und verleugnet. Stellen wir uns dann erst vor, dieses Mädchen wäre 50 bis 100 Jahre früher geboren worden, als es undenkbar war, dass Mädchen anders als still und brav und sauber waren! Es kommt nicht von ungefähr, dass »Pippi Langstrumpf« von Astrid Lindgren zunächst in manchen Ländern verboten werden sollte und in den meisten zu heftigen Kontroversen geführt hat. Ihre Originalität und besonders ihr ungezähmtes Wesen waren eine ernsthafte Bedrohung für eine Kultur, in der Gehorsamkeit – vor allem für Mädchen – einen wesentlichen Wert darstellte.
Oder stellen wir uns vor, ein künstlerisch begabter Junge würde in eine Familie geboren, die Musik für Zeitverschwendung hält und ihn überredet, etwas »Anständiges« zu lernen, damit er es im Leben zu etwas bringt. Diese Eltern würden aus den besten Motiven heraus handeln – es wäre ihre feste Überzeugung, dass dies das einzig Richtige für ihr Kind sei. Aber es wäre ganz offensichtlich vollkommen am inneren Wesen des Jungen vorbei. Die meisten Menschen kennen das Gefühl, nicht als die gesehen zu werden, die sie sind. Vielleicht haben auch Sie sich als Kind oft unverstanden und fremd gefühlt. Die folgenden Überlegungen können dabei helfen, sich dessen bewusst zu werden und Wesensunterschiede Ihres Kindes besser zu akzeptieren.
ÜBUNG
Wie sehen Sie Ihr Kind – wie wurden Sie gesehen?
Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit, und stellen Sie sich folgende Fragen:
Erleben Sie Ihr Kind in irgendeiner Hinsicht als »aus der Art geschlagen«?
Wenn ja, ist das für Sie eher schwierig, oder erleben Sie es als anregend?
In welchen Momenten fühlten Sie sich als Kind fremd, nicht verstanden von Ihren Eltern?
Wie ging es Ihnen dabei?
Wurden Sie als Kind mit einem Elternteil verglichen?
Bilder erkennen,
Erwartungen loslassen
Um das Wesen unseres Kindes zu entdecken, müssen wir uns erst einmal bewusst werden, welches Bild wir von ihm haben. Ein solches Bild setzt sich aus vielen Eigenschaften zusammen, die wir unserem Kind zuschreiben, positive wie negative, im Charakter wie im Verhalten. Die folgende Übung kann Ihnen mehr Klarheit da-rüber verschaffen, wie Sie Ihr Kind wahrnehmen. Obwohl Sie dabei ausdrücklich NICHT BEWERTEN sollen, werden Sie dies vermutlich tun, denn bestimmte Eigenschaften sind in unserer Kultur und Sprache automatisch positiv oder negativ belegt. Diese Vorgehensweise ist typisch, wenn wir andere Menschen beschreiben sollen.
ÜBUNG
Welche Eigenschaften hat Ihr Kind?
Nehmen Sie sich ein wenig Zeit, und atmen Sie ein paarmal tief ein und aus, um erst einmal bei sich selbst anzukommen.
Wenn Sie bereit sind, stellen Sie sich auf Ihr Kind ein.
Schreiben Sie alles in Ihr Notizbuch, was Ihnen zu Ihrem Kind einfällt, ohne lange zu überlegen oder zu bewerten, einfach was Ihnen in den Sinn kommt: die Schwangerschaft, seine Geburt, das Leben mit ihm bis zu diesem Punkt.
Was haben Sie für ein Bild von Ihrem Kind?
Welche Eigenschaften mögen Sie, womit haben Sie Schwierigkeiten?
Vielleicht können Sie diese in unterschiedlichen Farben unterstreichen oder in zwei Spalten schreiben. Wenn Sie Ihre Notizen in einigen Monaten noch einmal lesen, entdecken Sie möglicherweise, dass Ihnen manches gar nicht mehr so schwierig erscheint – oder dass Ihr Kind sich verändert hat. Schreiben Sie einfach alles auf, auch wenn es Ihnen überflüssig vorkommt oder peinlich ist – Sie brauchen es ja niemandem zu zeigen.
Schubladendenken vermeiden
Wir bewerten im Geist ständig unsere Eindrücke, wir schieben sie in Ablagen mit der Aufschrift »gut«, »schlecht«, »schwierig«,
»angenehm« und
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