Die Kunst, gelassen zu erziehen
Vater sei Sportlehrer gewesen und hätte sich immer gewünscht, dass auch er sportlich erfolgreich sei. Leider sei Sport aber so gar nicht seine Sache gewesen. Er habe sein Bestes gegeben, um bei seinem Vater Anerkennung zu finden – aber für beide sei es letztlich die Hölle gewesen. Er habe furchtbar darunter gelitten, dass er seinen Vater nie zufriedenstellen konnte. Außerdem erinnerte er sich mit Schrecken daran, wie vollkommen frustriert sein Vater gewesen sei, dass ausgerechnet sein Sohn sportlich eine solche Niete war und trotz seiner besonderen »Förderung« nicht besser wurde. Eine ähnliche Erfahrung wollte er nun mithilfe des Seminars seinem eigenen Sohn und sich selbst ersparen.
Manchmal erliegen Eltern auch der Versuchung, ihre Kinder genau gleich behandeln zu wollen, um nur ja gerecht zu sein und sich nicht angreifbar zu machen. Wenn wir das eine Geschwisterkind jedoch genauso behandeln wie das andere, berücksichtigen wir die jeweiligen Eigenarten der Kinder nicht und können ihnen so auch nicht gerecht werden. Vielmehr gilt es, unsere ERWARTUNGEN an jedes Kind immer wieder neu zu ÜBERPRÜFEN : Sind die gesteckten Ziele, etwa was seine schulische Laufbahn anbelangt, auch wirklich realistisch? Nur weil unsere Erstgeborene aufs Gymnasium um die Ecke geht, heißt das noch lange nicht, dass auch der Jüngere dorthin gehört – so bequem es vielleicht auch wäre, beide auf derselben Schule zu haben. Berücksichtigen wir bei unseren Überlegungen wirklich die Stärken des Kindes und bauen wir auf ihnen auf? Oder stecken dahinter womöglich unsere eigenen Träume und Erwartungen?
Regeln und Grenzen: Wie viele sind nötig?
Grenzen sind ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Wir selbst sind begrenzt: Wir können zum Beispiel nicht fliegen, nicht so gut hören oder riechen wie Hunde, nicht lange ohne Schlaf auskommen – und trotzdem strahlend durchs Leben gehen. Gleichzeitig ist es eine besondere Eigenart des Menschen, ständig über sich selbst und seine Begrenztheit hinauswachsen zu wollen. Wir wollen unseren HORIZONT , unsere Möglichkeiten ERWEITERN , wir stellen alte Begrenzungen infrage und machen uns auf zu neuen Ufern. Und kleine Kinder haben diesen Drang, über sich hinauszuwachsen, in besonderem Maße. Warum sollten sie sich sonst die Mühe machen, laufen zu lernen? Wäre es nicht viel bequemer, liegen zu bleiben und sich versorgen zu lassen? Wir brauchen Kinder weder zu motivieren noch anzutreiben, damit sie forschen, lernen und ihren Horizont und ihre Möglichkeiten ständig erweitern. Von daher liegt es auf der Hand, dass sie auch Grenzen, die wir ihnen setzen, immer wieder infrage stellen. Und dies müssen sie auch, wenn sie sich entwickeln wollen – vorallem dann, wenn unsere Grenzen zu starr sind oder letztlich dem Zweck dienen, unsere Kinder zu kontrollieren.
Forschungsdrang positiv betrachten
Im Erfahrungsbericht (>) haben Sie bereits von dem Jungen gelesen, der seinen Forschungsdrang nicht aufgeben und immer wieder in der Toilette mit Wasser spielen wollte. Die auf den ersten Blick sinnvolle Grenze hielt ihn aber davon ab, sein Bedürfnis zu befriedigen, und so hat er sie erst dann respektiert, als sich ihm eine Alternative bot. Ein Kind mit einem weniger ausgeprägten FORSCHERGEIST hätte vielleicht aufgegeben. Das scheint auf den ersten Blick das Leben leichter zu machen, hat allerdings einen hohen Preis, denn wir tun einem Kind nichts Gutes, wenn wir ihm diesen Forscherdrang abgewöhnen.
Weisheitsgeschichte
Ein Junge ging mit seinem Großvater zu einem Wanderzirkus, und beide sahen sich die Tiere an. Schließlich kamen sie zu dem riesigen Tanzbär, der mit einem Seil um den Hals am Boden angepflockt war.
Der Junge betrachtete ihn nachdenklich und fragte seinen Großvater schließlich: »Sag mal Opa, warum reißt der Bär sich denn nicht einfach los? Dieser kleine Pflock könnte ihn doch sicher nicht halten, und er sieht nicht gerade glücklich aus.« »Weißt du«, antwortete der Großvater, »der Bär kam zu diesem Zirkus, als er noch sehr klein war. Ich habe ihn schon damals besucht, und du kannst mir glauben, er hat alles versucht, sich von dem Pflock loszureißen. Aber er war zu jener Zeit noch nicht stark genug, und so gab er auf und hat es nie wieder probiert.«
Grenzen wachsen lassen
Auch wenn es manchmal unbequem ist: Wer möchte schon Kinder, die immer brav und gehorsam sind und ihre Begrenzungen nie infrage stellen? Ist es nicht vielmehr unser EIGENTLICHER WUNSCH
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