Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Stück für Stück die Grenze dessen, welche Mittel sie im Kampf gegen den Staat für legitim hielten. Und je weiter sie sich aus der Gesellschaft ausgrenzten, umso schlimmer kam sie ihnen vor. Nicht eine objektive Lage entscheidet dann darüber, was man tut, sondern die gefühlte Situation. Oder mit den US-amerikanischen Soziologen William Isaac Thomas (1863-1947) und Dorothy Swaine Thomas (1899-1977) gesagt: »Wenn Menschen eine Situation für real halten, dann ist diese in ihren Folgen real.« 8
Gruppenverhalten und shifting baselines gehören häufig eng zusammen. Denn woher soll ich meine Anhaltspunkte für das nehmen, was »normal« ist, wenn nicht aus dem Verhalten der anderen, die ich beobachte? Für Ernst Fehr gehören Verschiebungen zu den Spielregeln unserer bedingten Kooperation: »Wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen kooperieren, dann ist die Kooperation jedes Einzelnen hoch; wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen nicht kooperieren, dann kooperiert tatsächlich keiner.« 9 Nach Fehr gilt dies für die Steuermoral ebenso wie für die Arbeitsmoral, den Sozialmissbrauch, die Korruption, die Kriminalität oder das Doping im Sport.
Stets verschieben wir unser Bewusstsein für »normales« Verhalten, und zwar abhängig von dem, was wir meinen, was die anderen tun.
Menschen richten ihr Verhalten danach aus, was sie erwarten, was andere tun oder was andere von ihnen wollen. Dabei sind sie in bestimmten Situationen sogar in der Lage, ihr Verhalten so stark zu verändern, dass sie sich von ihren Werten und Überzeugungen weit entfernen. Je unmerklicher diese Verschiebung erfolgt, umso leichter fällt uns die Veränderung. Auf diese Weise ist es möglich, dass uns selbst schwerwiegende Verfehlungen als »Anpassungen« erscheinen.
Ohne Zweifel ist unsere Fähigkeit, uns anzupassen, ein Teil des Geheimnisses für den Erfolg des Menschen in der Evolution. Doch Anpassung und Selbstbild passen mitunter nicht leicht zusammen. Während das Anpassen von uns verlangt, dass wir uns geschmeidig verändern, müssen wir für unser Selbstbild immer das Gefühl bewahren, dass wir dabei ein und dieselben bleiben. Doch wie geht das zusammen?
• Nicht persönlich nehmen. Wie wir uns vor uns selbst verstecken
Nicht persönlich nehmen
Wie wir uns vor uns selbst verstecken
Ich schwöre Ihnen … sich seiner selbst zu sehr bewusst zu sein ist eine Krankheit, eine richtiggehende Krankheit.
Fjodor Dostojewskij
Betteln steht in der westlichen Kultur nicht hoch im Kurs. Es gilt als unwürdig. Selbst unsere Obdachlosen sollen sich nicht mehr wie Bettler vorkommen, sondern uns ihre Straßenzeitungen verkaufen: der Berber als Ich-AG. Mag uns der Bettler bei Sankt Martin auch wie ein edler Wilder vorkommen - normalerweise lehren wir unsere Kinder, dass sie bei anderen nicht um Süßigkeiten oder Geschenke betteln sollen. Tun sie es doch, so ist uns ihr Verhalten meist peinlich. Es sei denn, das Betteln ist ausdrücklich erlaubt. Wenn der ganze Schwarm bettelt und die Gruppenmoral das Betteln zum Ritual erklärt, ist es »in Ordnung«.
Deutsche Kinder dürfen zu Sankt Martin betteln. Und US-AMERIKANISCHE Kinder zu Halloween. Doch auch sie sind und waren vor Beobachtungen nicht sicher. Anfang der 1970er Jahre geriet eine Schar bettelnder Mittelstandskinder in Kalifornien in das Visier zweier junger Nachwuchswissenschaftler: Thomas Shelley Duval von der University of Southern California und Robert Wicklund von der University of Texas in Austin. 1
Die Frage, die sich die Psychologen stellten, war alles andere als schmeichelhaft für die lieben Kleinen. Nicht das Betteln war für sie interessant. Vielmehr wollten sie wissen: Unter welchen Bedingungen klauen Kinder Bonbons, und wann lassen sie es lieber bleiben?
Während die beobachteten Kinder arglos von einem fremden Haus zum anderen zogen und nach Bonbons fragten, manipulierten die Wissenschaftler hinter den Kulissen. Die Hausherrinnen gaben den Kindern nicht einfach ein paar Bonbons, sondern sie führten sie in Versuchung. Wenn die bettelnde Schar vor die Häuser trat, begrüßten die Frauen die Kinder. Doch statt ihnen etwas zu geben, zeigten sie auf einen Korb mit Bonbons vor der Eingangstür. Jedes der Kinder dürfe sich ein Bonbon daraus nehmen. Dann gingen die Frauen zurück ins Haus. Die Kinder blieben nun mit dem vollen Bonbonkorb alleine zurück. Was würden sie tun? Würden sie die Situation ausnutzen und sich die Taschen mit den Bonbons
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