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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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mehrfach. Aber noch vor rund fünfzig Jahren gab es nicht einmal ein Deo. Frauen und Männer haben sich bereits einige Tausende oder Zehntausende von Jahren geküsst und miteinander geschlafen, lange bevor es Seife gab, Deos und Eau de Toilette. Und da unser Geruchssinn früher noch viel wichtiger war, waren ihre Nasen vermutlich nicht schlechter als heute. Selbst etwas so Elementares wie unser Geruchsinn lässt sich also gesellschaftlich manipulieren. In einer Stadt des 18. Jahrhunderts, wie Patrick Süskind sie in Das Parfum beschreibt, hielte es heute kaum ein Zivilisationskind mehr aus. Für die Menschen der damaligen Zeit aber waren starke Gerüche etwas so Normales, dass sich kaum jemand darüber aufregte. Eine Gestanksdebatte gab es in der westlichen Welt erst im Zusammenhang mit der Industrialisierung. Der Benzingeruch auf den Straßen zum Beispiel, den wir heute kaum mehr zur Kenntnis nehmen, galt vielen Menschen zu Anfang des 20. Jahrhunderts als abscheulich und unerträglich.
    Unser moralischer Geruchssinn ist dabei genauso kontextabhängig und manipulierbar wie unser physischer. »In der gleitenden Gegenwart ist es schwer, zu entscheiden, ob man sich an einem kritischen Punkt einer Entwicklung befindet, ab welchem Niveau eine Entscheidung irreversibel wird oder in welchem Augenblick des Verfolgens einer Strategie eine Katastrophe entsteht.« 5 Wer beim Blick aus dem Zugfenster auf einen anderen Zug blickt, verändert sein Empfinden mit dem, worauf er sieht oder womit er sich vergleicht. »Menschen verändern ihre Werte, weil ihre Welt sich verändert, nicht umgekehrt.« 6

    Shifting baselines sind eine ganz normale Erscheinung in unserer Welt. Sie sind die Folge unserer bemerkenswerten Anpassungsfähigkeit. Dass wir unsere Grenzen der Normalität verschieben können, bewahrt uns immer wieder vor der Verzweiflung. Im hohen Alter vergleichen wir unseren körperlichen Zustand nicht mehr mit dem vor fünfzig Jahren, sondern wir haben uns an unsere Gebrechlichkeit »mehr oder weniger« gewöhnt. Auch mit chronischen Schmerzen geht es uns manchmal »unter den gegebenen Umständen« gut oder besser. Und in den Slums dieser Welt gibt es Menschen, denen es »alles in allem« gutgeht.
    Das Gleiche gilt für unsere Moral. Das Milgram-Experiment ist ein eindrucksvolles Beispiel für das allmähliche Verschieben einer Grenze durch viele kleine Schritte. Ein normales Verhalten. Wenn ich als Kind in einer unbemerkten Stunde unerlaubt vom Kuchen klaute, schnitt ich mir nur ein hauchzartes Stück ab. Niemand würde den Unterschied bemerken. Der Erfolg der Täuschung und die Gier allerdings verleiteten mich dazu, noch ein weiteres hauchzartes Stück abzuschneiden. Und so weiter und so fort. Und während ich mich auf diese Weise brav selbst weiter täuschte, fiel meiner Mutter später auf, dass ein ordentliches Stück vom Kuchen fehlte.
    Wer seine Grenze Schritt für Schritt verschiebt, verliert oft weitgehend die Fähigkeit, die Folgen der gesamten Handlungskette realistisch einzuschätzen. Und wenn wir, wie im Fall des Milgram-Experiments, die Grenzen nicht freiwillig verschieben, sondern unter Druck, können wir sogar völlig die Orientierung dafür verlieren, was normal ist: unsere ursprünglich gefühlten Normen oder die neu vorgegebenen Normen des Versuchsleiters. Nach Harald Welzer hatte vermutlich nur ein Bruchteil der Volksmassen, die Hitler 1933 zugejubelt hatten, den Holocaust in seinem ganzen horrenden Ausmaß tatsächlich gewollt. Doch die Nationalsozialisten begannen ihre Politik der Ausgrenzung und Verfolgung nicht mit der »Endlösung«, sondern mit den
Rassegesetzen von 1935. Im Jahr 1938 brannten die Synagogen in der Reichspogromnacht. Und der Vernichtungskrieg gegen die Juden begann im Sommer 1941. Wie bei Milgrams allmählicher Erhöhung der Voltzahl verschob in Deutschland fast ein ganzes Volk Stück für Stück seine Grenze für Recht und Unrecht. 7
    Shifting baselines begegnen uns in allen Teilen der Gesellschaft. Welche Bezahlung wir für eine bestimmte Arbeit für »normal« halten, hängt eng damit zusammen, was andere bekommen. Ein Hartz-IV-Empfänger in Deutschland wird sich nicht reich fühlen, auch wenn er es mit dem gleichen Geld in Mali oder Bangladesch wäre. Wie unsere Selbsteinschätzung, so folgt auch unser Handeln nicht einer übergeordneten Vernunft, sondern einer internen Logik. Auch die Terroristen der RAF glaubten, dass ihr Handeln sinnvoll sei. Sie verschoben in wenigen Jahren

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