Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
beunruhigenden Folgen unseres Handelns allzu viele Gedanken zu machen, brechen wir die Analyse der Situation lieber ab. Eher etwas Falsches tun, für das wir uns nicht schuldig fühlen müssen, als eine Situation auszuhalten, in der wir zutiefst hin- und hergerissen sind. Sich einem Befehl ganz und gar hinzugeben ist viel leichter, als damit zu hadern. Und je strenger eine Respektsperson etwas befiehlt, umso weniger erscheint mir das, was ich tue, als mein Werk.
Wenig überraschend ist aber auch, dass sich die Situation im Nachhinein ganz anders darstellt. Als Lebewesen, die ihrem Selbstbild verpflichtet sind, brauchen wir ein gewaltiges Arsenal an Ausreden und Ausflüchten, um später mit solchen Taten zu leben. Und häufig (wenn auch nicht immer) überkommt die Täter einer solchen Situation später Reue und Verzweiflung. Die Frage, die sich dem Täter stellt, ist dann häufig die gleiche wie die seiner Ankläger: Wie konnte es dazu kommen?
An dieser Stelle kommt noch eine zweite Quintessenz des Milgram-Experiments ins Spiel. Bekanntlich wurden die Lehrer vom Versuchsleiter dazu angehalten, den Schüler mit sehr geringen Stromstößen zu traktieren. Die Dosis steigerte sich erst allmählich und damit ganz offensichtlich auch das Maß, das die Lehrer noch für »normal«, für »vertretbar« oder »angemessen« halten konnten.
Für Phänomene, bei denen sich eine Grenze verändert, ohne dass wir es selbst oft richtig mitbekommen, gibt es in der Sozialpsychologie heute ein neues Wort: shifting baselines. Der Begriff ist schwer zu übersetzen. Sinngemäß meint er, dass sich die Anhaltspunkte, anhand derer wir etwas einschätzen, unmerklich verschieben können.
Machen wir uns das an einem einfachen Beispiel klar. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Zug. Wenn Sie eine ungefähre Vorstellung davon bekommen wollen, wie schnell der Zug fährt, dann blicken Sie in die Landschaft. Sie beobachten, in welchem
Tempo Strommasten, Häuser und Menschen an Ihnen vorbeisausen. Doch was ist, wenn auf dem Nebengleis ebenfalls ein Zug in die gleiche Richtung fährt? Nun können Sie das eigene Tempo nur noch im Vergleich zum Tempo des anderen Zuges wahrnehmen. Sie merken, ob der andere Zug schneller oder langsamer ist. Aber was Sie nicht mehr merken, ist, ob beide Züge eher Tempo 100 oder 200 fahren.
Der Erste, der das Wort shifting baselines verwendete, war der französisch-amerikanische Fischereiwissenschaftler Daniel Pauly von der University of British Columbia in Vancouver. 4 Er stellte die Frage, wie man eigentlich verlässlich nachweisen will, ob ein Meer überfischt ist oder nicht. So leicht es ist festzustellen, wie viele Fische es heute gibt, so schwer ist es zu sagen, wie viele es früher waren. An welchem Richtwert für eine natürliche Population soll man sich orientieren? Mit Schmunzeln stellte Pauly fest, dass die meisten Forscher immer die Zahl der Fische für »natürlich« hielten, die sie zu Anfang ihrer Karriere irgendwo vorfanden. Das Maß der Dinge ist kein großer objektiver Wert, sondern eine ganz kleine persönliche Erfahrung. Und von einer Generation zur anderen verschiebt sich schnell und unmerklich die Grenze für das, was wir für normal halten.
Noch Anfang der 1980er Jahre reichte der Schutzfaktor von Sonnenmilch in der Regel von zwei bis sechs. Nur für die Lippen gab es bereits einen Stift mit Faktor zehn. Doch Umweltapostel prophezeiten, dass in Folge des Klimawandels irgendwann Schutzfaktoren von zwanzig oder dreißig nötig seien. Die meisten Leute hielten dies für Blödsinn. Und die, die es glaubten, fürchteten sich vor diesem Horrorszenario, einem brennenden Signal für den drohenden Untergang des Abendlandes durch ungehinderte Sonneneinstrahlung. Heute, im Jahr 2010, hat die durchschnittliche Sonnenmilch tatsächlich einen Schutzfaktor von zwanzig bis dreißig. Auch Produkte mit fünfzig und mehr sind auf dem Markt und für viele Mitteleuropäer offensichtlich erforderlich. Besonders beunruhigt aber ist kaum einer. Dass die
Sonneneinstrahlung zugenommen hat, nehmen wir längst als Fügung hin. Was wir früher für besorgniserregend gehalten haben, halten wir inzwischen längst für normal. Und wo der Schutzfaktor zehn früher als hoch galt, gilt er heute als niedrig.
Mein ganz persönliches Lieblingsbeispiel für shifting baselines ist der Körpergeruch. Wir halten es heute in unserem Kulturkreis für normal und angebracht, dass Frauen und Männer täglich duschen, im Sommer sogar
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