Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
die Schule verlassen und schlägt sich mit diversen Jobs durch. 1956 emigriert Csíkszentmihályi in die USA und studiert Psychologie in Chicago. Seinen Lebensunterhalt verdient er dabei als Nachtportier in einem großen Hotel. Seine Begeisterung für die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Psychologie in Chicago hält sich allerdings in Grenzen. Er lernt, wie Ratten ihren Nachwuchs identifizieren, aber nicht, was ihn wirklich interessiert: Warum sind Menschen so, wie sie sind? Warum sind sie so oft unglücklich? Und was hindert sie daran, anders zu sein?
Während seiner Doktorarbeit zu Anfang der 1960er Jahre entdeckt Csíkszentmihályi ein Phänomen, das ihn fasziniert. Ein Künstler, der an seinem Werk arbeitet und dabei voll in seiner Tätigkeit aufgeht, ist ohne Zweifel oft sehr glücklich. Ein Glück allerdings, das in keiner Glückstheorie der damaligen Zeit überhaupt
nur erwähnt wird! Die Psychologen in Chicago definieren das Glück, wenn überhaupt, so wie heute die Soziobiologen. Glück sei die Erfüllung unserer biologischen Interessen nach Anerkennung, Ruhm, Macht, Geld, Sex und Liebe. Doch der Mensch, der in Trance seine Arbeit tut, das spielende Kind, der Bergwanderer, der Musiker, der begeisterte Hobbysportler - all diese Menschen erwarten in dem Moment keine höhere Form von Belohnung. Sie sind glücklich allein durch das, was sie tun. Sie vergessen, dass sie hungrig oder durstig sind, und denken über gar nichts nach außerhalb ihres Tuns.
Fast zwei Jahrzehnte lang bleiben Csíkszentmihályis Forschungen von der Öffentlichkeit fast unbemerkt. Und auch nur wenige Kollegen interessieren sich für das Phänomen des Flow. Erst in den 1990er Jahren kommt der große Durchbruch. Fast über Nacht wird der Ungar mit seinen seltsamen Forschungen zum Star. Ein Artikel über ihn im renommierten Magazin Newsweek bahnt ihm den Weg. 1990 schreibt er ein erstes populäres Buch. Die Mundpropaganda der Fans macht Flow. Das Geheimnis des Glücks zu einem internationalen Bestseller. Selbst der US-amerikanische Präsident Bill Clinton zählt es 1997 zu seinen Lieblingsbüchern.
Der Durchbruch Csíkszentmihályis in der Fachwissenschaft aber war schon rund zehn Jahre früher erfolgt. Zu Anfang der 1980er Jahre führt er ein neues Instrument in die Psychologie ein, das er Pager nennt. Und er erfindet zugleich eine neue Methode, um reale Erfahrungen zu sammeln. Wenn Psychologen wissen wollten, wie sich Menschen fühlen, so ließen sie sie zumeist Fragebögen ausfüllen. Doch Csíkszentmihályi war sich sicher, dass man auf diese Weise das Falsche maß - nämlich das, was die Menschen im Nachhinein glaubten, wie sie sich fühlten. Statt mit echtem Empfinden hatte man es mit einer Art Selbstbilanz zu tun. Doch beides ist verschieden. Csíkszentmihályi dagegen rüstet seine Versuchsteilnehmer mit elektronischen Funkempfängern aus und schickt ihnen in unregelmäßigen Abständen
Signale. Jedes Mal, wenn der Pager piept, sollen seine Testpersonen in einem Heft aufschreiben, was sie gerade tun, was sie fühlen und woran sie denken.
In einer seiner zahlreichen Versuchsreihen gingen Csíkszentmihályi und sein Mitarbeiter Thomas Figurski (auch der Name ist echt!) in fünf verschiedene Unternehmen. 4 Er fand 107 Angestellte im Alter zwischen 19 und 63 Jahren, die bereit waren, an dem Versuch teilzunehmen. Er motivierte sie dazu, eine Woche lang einen Pager zu tragen. Das Gerät piepste sieben- bis neunmal am Tag in willkürlichen Abständen. Und die Versuchsteilnehmer schrieben jedes Mal auf, was sie gerade machten, woran sie dachten und wie sie sich fühlten.
Eines der spektakulärsten Ergebnisse des Versuchs war, dass die meisten Menschen sich am Tag kaum Zeit nahmen, über sich selbst nachzudenken. Ihre Gedanken sprangen zwischen der Arbeit und ihrem Zuhause hin und her, sie dachten an Gesprächsfetzen, die ihnen noch nachhingen, hatten Tagträume oder redeten über ziemlich belanglose Dinge.
Erinnern Sie sich an die Vermutung, dass ein außerirdischer Verhaltensforscher, der uns studiert, zu dem Schluss kommen müsste, dass wir unser alltägliches Leben ziemlich wenig an unseren tatsächlichen Eigeninteressen ausrichten? (Vgl. Das Prinzip Eigennutz. Wie viel Egoismus steckt im Menschen?) Csíkszentmihályi bestätigt das Gleiche auch am Beispiel unserer Selbstaufmerksamkeit. Nur acht Prozent aller Gedanken der befragten Menschen drehten sich um ihr Selbst. 5 Die Versuchsteilnehmer meinten sogar viel häufiger, dass
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