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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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ihre Wirkung eher schwach. Nur ein Viertel der Lehrer war bereit, bis zum Ende auf jemanden zu hören, dessen hierarchischer Rang unklar war. Ein ähnlicher Effekt stellte sich ein, wenn der Versuchsleiter sich nicht als Wissenschaftler, sondern nur als ein freiwilliger Versuchsteilnehmer vorstellte, der das tue, was man ihm gesagt hätte.

    Als Milgram 1984 im Alter von nur 51 Jahren an einem Herzinfarkt starb, waren seine Experimente bereits hundertfach in verschiedenen Ländern wiederholt worden. Dabei gab es kaum Abweichungen. Wo auch immer die Versuche gemacht worden waren, stets war eine große Zahl von Teilnehmern bereit, die höchstmögliche Dosis an Stromschlägen zu verabreichen. Nach Aussage der US-amerikanischen Psychologin Susan Fiske, Professorin an der Princeton University, gibt es heute rund 25 000 Studien mit insgesamt acht Millionen Versuchsteilnehmern, die zeigen, dass man normale Menschen durch entsprechende Umstände dazu bringen kann, unbeschreibliche Dinge zu tun. Das Gleiche beweise ja auch die Realität. Ob während des Zweiten Weltkrieges, in Vietnam oder in den Folterkammern des US-amerikanischen Gefangenlagers Abu Ghraib im Irak - stets griffen dabei die gleichen psychologischen Mechanismen. 2
    Wie Gehorsam sich gegen Gewissen durchsetzen kann, zeigte unlängst noch einmal der französische Filmemacher Christophe Nick. 3 Das Ziel seines Experiments war, eine ganz besondere Art der Autoritätsgläubigkeit zu demonstrieren. Er wollte zeigen, wie das Fernsehen die Franzosen manipuliert. Mithilfe eines Castings wählte Nick Freiwillige für eine Fernsehshow aus. Ihre Aufgabe war dabei die gleiche wie bei Milgram. Ein Kandidat musste sich Begriffe merken und wiedergeben. Und die Freiwilligen bestraften ihn bei Fehlern mit Stromschlägen von 20 bis 460 Volt.
    An Freiwilligen bestand kein Mangel. Achtzig Menschen wurden nach und nach auf die Bühne geschickt. Eine hübsche Moderatorin leitete die Sendung, das Publikum applaudierte, und die Versuchspersonen verteilten ihre Stromstöße. Dem Kandidaten, der, versteckt unter einer Metallglocke, auf dem elektrischen Stuhl saß, ging es nicht anders als im Milgram-Experiment. Obwohl er bettelte, flehte und schrie, brachten die Moderatorin und das johlende Publikum achtzig Prozent ihrer Testpersonen bis zum Äußersten. Und obgleich der Kandidat schon bei 380
Volt verstummte, schickten ihm 16 Freiwillige sogar noch einen Schlag von 460 Volt hinterher.
    Obwohl das Experiment viel Kritik hervorrief, wurde die Sendung am 18. März 2010 vom Sender France 2 ausgestrahlt. Für Nick ist sie ein Beweis für die furchterregende Macht des Fernsehens, ganz normale Menschen manipulieren zu können. Durch das Privatfernsehen so sehr an Gewalt und Voyeurismus gewöhnt, seien die Leute inzwischen so weit, dass man auf dem Bildschirm sogar eine Hinrichtung inszenieren könnte.
    Immerhin waren viele der Freiwilligen im Anschluss an das TV-Experiment überrascht über sich selbst und bestürzt. Schon die Testpersonen von Milgrams erstem Versuch hatten verschiedene Phasen durchlaufen. Drängte der Versuchsleiter sie zum Weitermachen, so reagierten sie nervös. Sie fühlten sich unwohl und unsicher und verloren sichtbar ihr Selbstbewusstsein. Doch obwohl einige von ihnen einem Nervenzusammenbruch nahe waren, ließen sie sich überreden weiterzumachen. Als ihnen im Anschluss an ihren Test das ganze Experiment erklärt wurde, erschraken sie zumeist sehr über sich selbst. Bezeichnenderweise stimmten alle bis auf einen Freiwilligen trotzdem zu, dass ihr Beispiel veröffentlicht wurde. Offensichtlich hielten sie es für richtig, auch andere Menschen darüber aufzuklären, wie leicht Menschen in speziellen Situationen auf extreme Weise manipulierbar sind.
    Fassen wir das Ergebnis der Versuche in der Manier der Milgram-Experimente noch einmal zusammen. Eine wichtige Quintessenz aller Tests ist, dass sehr viele Menschen in einer Drucksituation bereit sind, Dinge zu tun, die sie eigentlich für falsch, wenn nicht gar für verwerflich oder verabscheuungswürdig halten. Zu einer solchen Stresssituation gehören etwa Zeitdruck, eine Situation, auf die man nicht vorbereitet ist, und eine strenge Anweisung durch eine Autorität. Allesamt Umstände, wie sie auch beim Polizeibataillon 101 vor Józefów gegeben waren. In solch einer Lage sind ganz normale Menschen offensichtlich
dazu fähig, ihre Gewissensnot dadurch zu lindern, dass sie ihre Verantwortung abgeben. Statt uns über die

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