Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
sie sich gerade »keine Gedanken« machten (auch wenn ich bezweifeln möchte, dass das geht. Ein Yogi würde vermutlich behaupten, dafür bedürfe es der Meditationserfahrung von Jahrzehnten).
Normale Menschen sind keine Moralphilosophen. Und statt von einer ständigen Selbstaufmerksamkeit sollten wir lieber von einer ständigen Selbstunaufmerksamkeit ausgehen. Ein großes Problem für unsere moralischen Handlungen besteht darin, dass
wir uns deshalb oftmals gar nicht als den Verursacher unserer Handlungen wahrnehmen. Bereits der englische Philosoph John Locke (1632-1704) bemerkte, dass wir uns damit in moralischen Fragen oft erstaunlich schwertun. Im Kapitel »Über Identität und Verschiedenheit« seines »Versuchs über den menschlichen Verstand« (1689) betont er, dass Menschen zwar in der Lage dazu sind, ihr Verhalten sich selbst zuzurechnen. Doch was ist mit jenen, die dies nicht tun? Sind sie in vollem Umfang »schuldig«?
Zunächst einmal muss man zur Rechtfertigung unserer seltsamen Spezies einräumen, dass sie gewiss nicht dazu gemacht ist, fortwährend über sich selbst nachzudenken. Nach Dostojewskij wäre solch ein Verhalten sogar eine Krankheit. Und wer unausgesetzt über sich selbst nachdenkt, kommt vermutlich zu gar nichts. Eine besondere Pointe von Csíkszentmihályis Flow-Forschung liegt bezeichnenderweise ja auch darin, dass wir dann am glücklichsten sind, wenn wir uns möglichst gut konzentrieren. Aber nicht auf uns selbst, sondern auf unser Tun. Sich selbst immerfort zu beobachten kann sogar die Quelle eines dauerhaften Übels sein. Wir verpassen das Glück im Moment, stehen »neben uns«, auch wenn wir etwas Schönes erleben könnten. Und auf unsere Mitmenschen wirken wir dadurch nicht besser, sondern weniger authentisch. Wenn alles schiefläuft, werden wir hyperkritisch gegenüber uns selbst. Am Ende erleben wir uns als Fehlbesetzung im eigenen Film.
Die Kunst im Leben besteht ohne Zweifel im Weglassen. Wer nicht ausblenden kann, hat beste Chancen, verrückt zu werden. Nichts anderes gilt auch für unsere Selbstaufmerksamkeit. Gute Schauspieler trainieren ihre Rolle nicht vor dem Spiegel. Sie konzentrieren sich nicht auf das Bild, das sie abgeben, sondern auf die Figur, die sie verkörpern. Man kann es auch mit Yoga probieren oder mit Meditation, die uns helfen, unser reflektiertes Selbstbild auszublenden. Beliebter, weil einfacher, ist jedoch der schlichte Aufmerksamkeitsraub. Unsere ganze Unterhaltungsindustrie
ist ein Hilfsmittel, um uns selbst wirkungsvoll zu vergessen. Wenn wir einen spannenden Film sehen, denken wir kaum über uns selbst nach. Ballerspiele am Computer kommen völlig ohne Selbstreflexion aus. Und wenn alles andere nicht hilft, ist auch Alkohol eine Lösung. Man kann sich Mädchen auch schöntrinken, sagt der Kölner. Viel wichtiger aber ist, dass man sich selbst schöntrinken kann. In einer Gesellschaft, die die Schönheit anbetet wie keine zweite zuvor, ist der verschwommene Blick auf sich selbst vielfach eine Gnade.
Mit der Selbstaufmerksamkeit ist es eine merkwürdige Sache. Eine Lehre aus dem täglichen Leben sagt uns, dass gewisse Defizite in der Selbstaufmerksamkeit uns viel nützen können. Je weniger wir uns selbst infrage stellen, umso entschlussfreudiger und durchsetzungsfähiger sind wir. Wer Spitzenpolitiker oder generell Chef werden will, tut gut daran, sich nicht über die Maßen selbst zu therapieren. Moralphilosophen dagegen erkennen den Reifegrad einer Person gerne an der Fähigkeit, über sich selbst reflektieren zu können. Für den Moralpsychologen Lawrence Kohlberg erreichen wir die höchste Stufe unserer Moralität, wenn wir unser Verhalten an allgemeingültigen ethischen Prinzipien ausrichten. Das aber setzt voraus, dass wir über uns selbst sehr viel und sehr gründlich nachdenken. 6
Richtig ist: In der Moral kommen wir ohne Selbstaufmerksamkeit nicht aus. Darin liegt die Crux. Doch wie kann man sich antrainieren, was man sich aus gutem Grund im Leben sonst gerne abtrainiert?
Die Situation ist auf hartnäckige Weise vertrackt. Kein Wunder, dass sich in der Moralpsychologie zwei Schulen gegenüberstehen, die jeweils genau das Gegenteil voneinander behaupten. Die klassische Schule, die sich auf Piaget und Kohlberg beruft, hält insgesamt eher wenig von unseren sozialen Instinkten. Sie ist zufrieden, wenn es uns gelingt, unsere Selbstbeobachtung zu verbessern und so analytisch wie möglich zu werden. Nicht die Instinkte sollen uns bestimmen,
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