Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
vollstopfen?
Nun, der Bonbonklau wurde durch ein wichtiges Detail beeinflusst. Bei einigen der Häuser sahen sich die Kinder beim Griff in den Bonbonkorb im Spiegel. Bei anderen nicht. Und das Resultat? Wenn sich die Kinder beim Klauen selbst beobachten mussten, schreckten sie häufig zurück. Fehlte der Spiegel, taten sie sich damit wesentlich leichter. (Als ich das erste Mal davon hörte, wurde mir schlagartig klar, warum meine »Vermögensberaterin«, die mir vor einigen Jahren meine Lebens- und Sachversicherungen verkaufte, sich bei unseren Treffen in einem Berliner Restaurant nie mit dem Gesicht, sondern immer mit dem Rücken zum Wandspiegel setzen wollte.)
Natürlich ist der Bonbonklau der kalifornischen Kinder auch ein Fall von Legitimation durch Konformität. Wenn einer klaute, dann fiel auch den anderen das Klauen leichter. Der Spiegel aber verhinderte dabei oft, dass überhaupt jemand den Anfang machte. Wer gezwungen ist, sich selbst bei etwas zu beobachten, handelt meist moralischer, als wenn er nicht viel über sich selbst dabei nachdenken muss. Wir verheimlichen unser Tun also nicht nur vor anderen, sondern gut und gerne auch vor uns selbst. Der Trick ist: Wir machen uns unsere Entscheidungen und unser Handeln nicht selbst bewusst und identifizieren sie nicht mit unserem Selbstbild. Wie viele Verkehrssünder etwa haben überhaupt
kein Unrechtsgefühl. Und sei es nur deshalb, weil sie ihre Straftaten eben nicht bewusst ausgeführt haben. Auf diese Weise ist es allgemein nicht schwer, sich für besser zu halten, als man ist.
Thomas Shelley Duval nahm sich im Jahr 2002 das Leben. Robert Wicklund setzte seine Studien und Versuche bis heute an mehreren Universitäten, darunter auch in Bielefeld, fort. Die Erforschung der Mechanismen, wonach wir unserem Selbstbild mal mehr Aufmerksamkeit schenken und mal weniger, beschäftigt heute einen ganzen Wissenschaftszweig der Sozialpsychologie. Spiegeltests gibt es inzwischen Hunderte. Die kanadische Psychologin Kathleen Martin Ginis von der McMaster University in Ontario setzte zwei Gruppen von je 46 untrainierten Frauen zwanzig Minuten auf einen Heimtrainer. 2 Während die eine Gruppe vor einem Spiegel trainierte, schaute die andere nur auf eine Wand. Wie zu erwarten, erklärten diejenigen, die sich im Spiegel beobachten mussten, dass sie sich ziemlich unwohl gefühlt hätten. Sie meinten sogar, sie seien besonders erschöpft. Die Frauen, die vor der Wand trainierten, hatten diese Probleme weniger oder gar nicht. Während man sich ohne Spiegel ganz auf die Übung konzentrieren kann, neigen wir vor dem Spiegel dazu, uns ständig zu überprüfen. Sind wir zu unsportlich, zu dick, zu alt, zu hässlich? Unsere Wünsche in Bezug auf unser Selbstbild treten mit dem, wie wir uns wahrnehmen, in Konflikt. Ein Problem, dem wir im Alltag gerne ausweichen.
Der Blick in den Spiegel zeigt uns die Diskrepanz zwischen unseren Wünschen, Vorstellungen und Normen auf der einen und unserem Aussehen und Verhalten auf der anderen Seite. Nur wenige Menschen begegnen ihrem Spiegelbild mit großer Ruhe und Gelassenheit. Dabei steht unsere physische Attraktivität meist eher im Vordergrund als unsere moralische Integrität. Denn wenn wir über uns selbst nachdenken, dann vermutlich viel häufiger über unser Aussehen als über unsere sozialen Entscheidungen. Und auf dem Video, das ein Freund von uns
gedreht hat, wundern wir uns mehr darüber, wie wir etwas sagen und tun - über unsere Stimme und unsere Bewegungen -, als über das, was wir tun.
Der Grund für unsere Irritation ist übrigens leicht gefunden. Normalerweise nämlich befinden wir uns im Alltag nur sehr selten in einem Zustand der Selbstaufmerksamkeit. Zwar ist der Mensch das einzige Tier, das sich beim Leben selbst beobachten kann - aber das bedeutet durchaus nicht, dass er davon besonders häufig Gebrauch macht. Stattdessen müssen wir moralische Höhlenbewohner lernen, dass unsere Selbstaufmerksamkeit eine ebenso flüchtige Sache ist wie unsere anderen Aufmerksamkeiten.
Wie oft denken Menschen über sich selbst nach? Diese Frage stellte der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi (*1934) von der University of Chicago. Der Mann, dessen Name klingt wie die Tim-Struppi-Karikatur eines Osteuropäers, ist ein Enfant terrible der Zunft. Als Sohn des ungarischen Konsuls in Italien geboren, hat er eine bewegte Kindheit und Jugend. 3 Er erlebt den sozialen Abstieg seiner Eltern von Diplomaten zu Gastronomen in Rom, muss
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