Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
»umgesiedelt«. Auch heute noch ist des Täuschens mit Worten kein Ende. Der Krieg der Bundeswehr in Afghanistan wird nicht als solcher benannt. Die Menschen werden nicht durch Bomben zerfetzt, sondern durch »Luftschläge«. Und Gesetze werden nicht korrigiert, sondern »nachgebessert«, nachdem man sie vorher »auf den Weg gebracht« hat wie Schulkinder.
Aber Politiker sind durchaus keine Ausnahme. Die Kunst, sich und andere durch Worte zu täuschen, ist eine urmenschliche Eigenschaft. Gemeinhin lernen wir sie bereits in der Grundschule. Und je besser es uns gelingt, andere davon zu überzeugen, dass unser Tun und Lassen richtig und harmlos war, umso mehr beruhigen wir uns damit selbst. Gut gesetzte Worte sind ein probates Mittel gegen das große Loch im Gewissen. Um unser Selbstbild von länger anhaltender Selbstkritik frei zu halten, schrecken wir vor wenig zurück. Im Krieg ist nahezu jedes Mittel gerechtfertigt, weil man nicht Menschen tötet, sondern Feinde. Der Feind ist dabei nicht etwa eine »Metapher«, ein »Bild« oder ein »Konstrukt«, sondern er ersetzt tatsächlich den Menschen.
Im Zivilleben haben wir viele vergleichbare Tricks. Die gleiche Vernunft, die uns in die Lage versetzt, über uns selbst und unser Handeln zu reflektieren, hilft uns auch dabei, uns zu entlasten, zu entschuldigen und zu beruhigen. »Wenn’s drauf ankommt, eine Geliebte zu betrügen, da ist der Dümmste ein Philosoph«, meinte Johann Nepomuk Nestroy in seiner Komödie Der Treulose.
Je intelligenter Menschen im Lauf des Evolutionsprozesses wurden, umso wichtiger wurde ihnen die Frage nach ihrem Selbstbild und ihrem Gewissen. Dabei gehört es zu den wenig überraschenden Erkenntnissen der Sozialpsychologie, dass eine Art von Information uns ganz besonders interessiert: Informationen über uns selbst. Wenn uns zu Ohren kommt, was ein Freund, ein Bekannter oder ein Arbeitskollege Nettes oder weniger Nettes über uns gesagt hat, hören wir zumeist sehr genau hin. Jedenfalls mehr, als wenn es um deren Meinung über Fußball, Rotwein oder Urlaubsparadiese geht. Unser liebstes Thema sind wir selbst. Beim Test mit den Model-Fotografien genügte es den jungen Mädchen bereits, dass sie am gleichen Tag Geburtstag haben sollten wie die Models, um sich stärker mit ihnen zu identifizieren. Je mehr wir uns selbst irgendwo wiederfinden, umso wichtiger wird es uns.
Unser Selbstbild ist unser höchstes Gut. Doch die vielen Zehntausend Jahre des intellektuellen Reifungsprozesses gaben uns auch die Chance, wirksame Gegengifte zu entwickeln gegen die Gefahr dauerhafter Gewissensqualen. Wir können unsere Skrupel durch Abstraktionen entschärfen, wir können sie umschminken und umdeuten, wir können sie verdrängen und verschieben. Die erstaunliche Fähigkeit, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, die uns von allen anderen Tieren zu unterscheiden scheint, ist ein Geschenk und ein Fluch. Wir können Ansichten entwickeln, und wir können diese Ansichten ändern. Wir können sogar zu ein und derselben Sache gleichzeitig verschiedene Ansichten haben. Unsere hochdifferenzierte Sprache erlaubt es uns, von einem bestimmten Lebensalter an die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Je besser wir abstrahieren können, umso moralischer und unmoralischer können wir uns verhalten. Oder wie der englische Literaturwissenschaftler und Kulturphilosoph Terry Eagleton (*1943) von der University of Lancaster schreibt: »Wie das Feuer, so ist auch das Abstraktionsvermögen eine zwiespältige Gabe,
schöpferisch und zerstörerisch zugleich. Sie erlaubt uns, über die Gemeinschaft als Ganze nachzudenken, aber auch, die Gemeinschaft als Ganze mit chemischen Waffen zu vernichten.« 2
Wenn es richtig ist, dass nahezu alle Menschen ihrem Selbstbild verpflichtet sind, so verwundert es wenig, dass wir ein so großes Arsenal an Waffen entwickelt haben, um uns vor vernichtender Selbstkritik zu schützen. Wie die vielen Vergleiche mit unseren Mitmenschen, so dient auch unsere trickreiche moralische Buchführung dazu, uns selbst in ein vorteilhaftes Licht zu setzen. »Gemeinhin wollen wir ganz einfach glauben, dass wir vernünftige, anständige Leute sind, die richtige Entscheidungen treffen, sich nicht unmoralisch verhalten und redlich agieren. Kurz gesagt, wir wollen glauben, dass wir keine einfältigen, grausamen und absurden Dinge tun.« 3
Der innere Gerichtshof, vor dem wir unser Tun und Lassen zu verantworten haben, ist bei weitem
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