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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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werden wird und wir bestimmt keinen Krebs davon kriegen. Wir denken an Personen, die trotz Rauchens sehr alt geworden sind, und hoffen, bei uns wird das schon ähnlich gut klappen. Unter anderen Rauchern machen wir uns über den Gesundheitswahn und die Intoleranz der Nichtraucher lustig.
Wir fühlen uns als die letzten wahren free spirits und bilden ein Raucherethos aus. Und wenn jemand uns auffordert aufzuhören, empören wir uns, mit welchem Recht ausgerechnet dieser andere uns Vorhaltungen macht.
    Unsere Intelligenz, unsere Attraktivität und unsere Integrität sind die Dinge, die wir am wenigsten gern infrage gestellt sehen. Bezeichnenderweise sind dumme Menschen oft auch so dumm, sich nicht für dumm zu halten. Und je unmoralischer wir sind, umso unmoralischer gehen wir oft mit unserer Unmoral um. Es gibt Menschen, die über Leichen gehen, nur um ihre kognitiven Dissonanzen zu kaschieren. Und für die Sektenmitglieder von Marian Keech war es viel leichter, sich in die noch abstrusere Idee zu flüchten, die Welt gerettet zu haben, als zuzugeben, dass sie einem Blödsinn aufgesessen waren. 6 Es ist, so scheint es, leichter an Ufos zu glauben, als sich die eigene Naivität einzugestehen.
    Unsere moralische Buchführung ist ein guter Ort für unseren Egozentrismus. Schon der US-amerikanische Universalgelehrte und Politiker Benjamin Franklin (1706-1790) erkannte klug, dass unser Maß für Sympathie und Antipathie etwas überaus Selbstverliebtes hat. Wenn wir einem anderen Menschen einen Gefallen tun, so wird uns dieser Mensch fast zwangsläufig sympathischer. Das Stück Gute, das wir ihm von uns mitgeben, leuchtet uns von nun an aus seinen Augen an. Entscheiden wir uns aber dazu, dem anderen nicht zu helfen, so legitimieren wir unser Nichtstun fast immer durch eine Abwertung. Um vor uns selbst nicht als schlecht oder ungerecht dazustehen, reden wir uns noch einmal kräftig ein, dass der andere unserer Hilfe ja auch definitiv nicht würdig ist.
    Wo ein soziales Handeln ist, sind auch eine Rechtfertigung und eine Selbstbestätigung. Und wenn wir es dabei nicht schaffen, unser Verhalten an unsere Überzeugungen anzupassen, wie zum Beispiel beim Rauchen, so passen wir eben unsere Überzeugungen an unser Verhalten an. Eine dritte Möglichkeit liegt darin,
Aspekte hinzuzuziehen, die nichts mit der Sache zu tun haben, uns aber helfen, uns wieder etwas besser zu fühlen. In der Pubertät erreichen solche Nebenkriegsschauplatz-Argumentationen ihren Höhepunkt. Aber es gibt sie ebenso bei Erwachsenen. Der Raucher, der es nicht schafft, von seinen Zigaretten loszukommen, kann sich zum Beispiel sagen: Immerhin trinke ich nicht besonders viel Alkohol. Gleich kommt er sich etwas gesünder vor. Und im Vergleich mit einigen Freunden, die deutlich mehr trinken als er, wertet er sich rasch auf. Ob diese Argumentation den heraufdämmernden Lungenkrebs überzeugen wird, nicht weiter zu wachsen, ist freilich eine andere Sache.
    Ein schönes Beispiel einer solchen indirekten Rechtfertigung durch Verlagerung sind die »schwarzen Kassen« des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Dass Kohl die Namen der Personen nicht nennen wollte, die ihm heimlich Parteispenden hatten zukommen lassen, erschütterte sein Ansehen zutiefst. Kohl selbst flüchtete sich in einen höchst zweifelhaften Ehrbegriff, wonach die Loyalität gegenüber den Spendern moralisch höherrangig sein sollte als seine Verpflichtung, dem deutschen Volk Rede und Antwort zu stehen. Die vielen Kommentatoren zu Kohls Parteispendenaffäre aber ließen es sich nicht nehmen, immer und immer wieder zu wiederholen: Was auch immer Kohl getan hätte, seine Verdienste um die deutsche Einheit könne ihm keiner nehmen! Was um alles in der Welt hatte das eine mit dem anderen zu tun? Der einzig berechtigte Grund, Kohls Verdienste um die Einheit an diesem Punkt ins Spiel zu bringen, wäre gewesen, wenn Kohl die deutsche Vereinigung mit Hilfe seiner schwarzen Kassen ermöglich hätte.
    Nicht alle kognitiven Dissonanzen sind uns auch tatsächlich bewusst. Ansonsten sähe die Welt vermutlich anders aus. Wenn Politiker aus den angrenzenden Staaten zum Klimagipfel nach Kopenhagen mit dem Flugzeug fliegen und dabei Tonnen von Kerosin in die Luft blasen, illustrieren sie auf sinnfällige Art und Weise, dass sie ihr Thema offensichtlich nicht ernst nehmen. Und
wo bleiben die Konsequenzen des kleinen Mannes, der von den Politikern erwartet, dass sie etwas gegen den Klimawandel tun? Hat er zumindest sein

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