Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
dass all diese Fälle keine feste Regel bilden. Denn auch Vergleiche »nach oben« können uns motivieren. Warum sonst gibt es Vorbilder, denen wir nacheifern? Die beste Chance für einen positiven Aufwärtsvergleich ist dann gegeben, wenn wir zwischen unserem Vorbild und uns selbst Ähnlichkeiten finden. 4 Jemand Ähnliches, der uns in bestimmter Hinsicht toller erscheint, ist ein ideales Vorbild. Ist er uns hingegen völlig fremd, werden wir ihm wohl nicht nacheifern.
Einen weiteren Beweis dafür lieferte Mussweilers US-amerikanischer Kollege Jonathon Brown von der University of Washington in Seattle. 5 Brown zeigte seinen weiblichen Versuchspersonen die Fotografien von Models. Anschließend bat er die jungen Frauen, ihre eigene Attraktivität einzuschätzen. Wie nicht anders erwartet, fiel das Ergebnis nicht allzu vorteilhaft aus. Bei einem weiteren Versuch ergänzte der Forscher ein Detail. Er erklärte den jungen Frauen, dass er für sie ein Model ausgewählt habe, das am gleichen Tag Geburtstag hätte wie sie. Und siehe da, die Versuchsteilnehmerinnen wurden durch die persönliche Übereinstimmung klar beflügelt. Die (fiktive) Gemeinsamkeit sorgte dafür, dass sie sich dem Model gleich ein wenig ähnlicher fühlten. Sie bewerteten sich selbst deutlich vorteilhafter als die erste Gruppe.
Die Regeln zu verstehen, nach denen wir uns vergleichen, bedeutet viel. Es erklärt uns weit mehr, als nur zu verstehen, wovon
es abhängt, ob wir uns schön finden oder schlau. Die Auswirkungen auch für unser moralisches Handeln sind beträchtlich. Ob wir eine Spende von hundert Euro für viel halten, hängt maßgeblich davon ab, wie viel unsere Freunde oder unsere Familie spenden. Und ob die Polizisten des Reservebataillons 101 ihr Tötungshandwerk für »in Ordnung« hielten, bestimmte ebenfalls ihr Umfeld, mit dem sie sich verglichen. Man denke wiederum an den Polizisten, der sich zugutehielt, »nur« Kinder erschossen zu haben. Im Vergleich zu den Taten der anderen sollte dies für ihn »besser« gewesen sein. Der Kindermörder nahm sich seinen Kollegen als Anhaltspunkt, der in seinen Augen etwas Schrecklicheres tat als er - nämlich Mütter zu erschießen.
In der Sprache der Sozialpsychologie ist ein solcher Anhaltspunkt der Standard meines Vergleichs. Das drastische und schreckliche Beispiel zeigt, wie relativ unsere Moral häufig funktioniert. Der gleiche Mechanismus, mit dem ich mir meine Vier schöngeredet habe, gilt auch für den kindermordenden Polizisten: »Ich habe ja nur … Die anderen dagegen haben …«
Nicht jeder solcher Vergleichsprozesse ist uns bewusst. Die allermeisten Vergleiche, so Mussweiler, geschehen spontan und völlig unbewusst. Und wir reflektieren nur selten über den Standard und den Maßstab unseres Vergleichs. Oft vergleichen wir uns fast wahllos mit irgendjemandem in unserem Umfeld. 6 Natürlich kommt es vor, dass wir diese erste Einschätzung später korrigieren. Aber auch das machen wir seltener bewusst als unbewusst. Unsere Vergleichspunkte verschieben sich, und unsere Vorbilder wechseln wie unsere Feindbilder. Aber für das meiste davon brauchen wir nicht lange in uns hineinzuhorchen. Es geschieht gleitend und oft fast unmerklich.
Zum Wesen unseres permanenten Vergleichens gehört die Oberflächlichkeit. Nur sehr selten geraten wir in die Situation, dass wir uns ganz ausführlich und nach allen Regeln der Kunst vergleichen. Normalerweise reichen uns ein paar Anhaltspunkte völlig aus. Wer zu einem Model-Casting geht, vergleicht seine
Konkurrenz vermutlich weniger nach inneren Werten als nach äußeren Attributen. Bei einem Dichter-Wettlesen hingegen sind die Kriterien andere. Die meisten Menschen, denen wir im Alltag begegnen, sortieren wir ohnehin nur schematisch ein: »alte Frau«, »typischer Obdachloser«, »Polizist«, »penetrante Bedienung«, »netter Nachbar« und so weiter. Die Aufmerksamkeitskapazität unserer Gehirne ist begrenzt. Und als Höhlenbewohner müssen wir nur wissen, was tatsächlich zu unserer (Selbst-) Orientierung beiträgt.
Gleichwohl gibt es auch beim Vergleichen Angewohnheiten. Manches davon dürfte Erziehung sein, vieles ist über Jahre und Jahrzehnte trainiert. Vermutlich können wir die Menschen in unserer Umwelt recht schnell danach einteilen, ob sie eher zu Abwärtsvergleichen neigen oder zu Aufwärtsvergleichen. (Zumindest bei Literaturkritikern ist dies zumeist recht einfach. Die einen verspüren einen unaufhaltsamen Drang, ihr Ego dadurch zu
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