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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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seiner Jugend. Dass ein ehemaliger linker Fundamentalmoralist und Ökorebell wie Joschka Fischer heute als Lobbyist und elder salesman für Automobil- und Energiekonzerne durch die Welt tourt, ist ein Exempel für die shifting baselines unserer nicht nur moralischen Kontoführung. »Das Sein«, so erkannte bereits Fischers ehemaliges Idol Karl Marx, »bestimmt das Bewusstsein.«
    Wir wollen nicht gut sein, sondern uns im Zweifelsfall lediglich besser fühlen als unsere Geschwister, Nachbarn, Arbeitskollegen oder Schwager. Die Standards sind dabei so irrational, wie unsere Anspruchshaltungen an uns und andere verschiebbar sind. Unsere Wünsche und Befürchtungen treiben uns durch die
Tage und Nächte. Und »Realität« ist die Art, wie wir uns die Welt dabei zurechtlegen: unsere persönlichen Neigungen. Die Dinge, an die wir glauben. Die Werte der Gesellschaft, die für uns gelten oder eben nicht. Die Verbote, an die wir uns mehr oder weniger halten. Und die Leistungsideale, die wir danach bewerten, inwiefern es uns gegeben ist, an ihnen teilzunehmen. Der Langzeitarbeitslose verlacht die Leistungsgesellschaft; der soziale Aufsteiger glaubt an sie. Der wohlhabende ungebildete Unternehmer schmunzelt über den armen Intellektuellen. Der arme Intellektuelle verachtet den ungebildeten Unternehmer. Abstrakt aber sehen wir fast alle in allem positive Werte: in Leistung, Bildung und Wohlstand.
     
    Menschen definieren sich selbst dadurch, dass sie sich mit anderen vergleichen. Der weitaus größte Teil dieser Vergleiche geschieht spontan und unbewusst. Aufwärtsvergleiche können uns motivieren oder demotivieren - abhängig davon, ob wir es schaffen, uns mit unseren Vorbildern zumindest ein bisschen zu identifizieren. Abwärtsvergleiche dienen dazu, unser Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Umso schlechter die anderen, umso relativ besser komme ich dabei weg. In der Moral dienen Abwärtsvergleiche der moralischen Entlastung. Warum soll ich gut sein, wenn es die anderen auch nicht sind? Auf diese Art und Weise gelingt es uns immer wieder, uns für sehr vieles nicht verantwortlich zu fühlen.
     
    Vergleiche allerdings sind nur ein Instrument unserer moralischen Buchführung. Die anderen sind Verschieben, Vertagen und Verdrängen. Oder wir suchen uns einfach die passenden Worte und schaffen uns unsere psychischen Nöte damit weg …
     
    • Moralische Buchführung. Wie wir uns unser Selbstbild zurechtlügen

Moralische Buchführung
    Wie wir uns unser Selbstbild zurechtlügen
    Ich wusste es, aber ich habe es nicht geglaubt. Und weil ich es nicht geglaubt habe, wusste ich es auch nicht.
    Raymond Aron
     
     
    Die Säuberungsaktion begann über Nacht. Mitte März 2009 änderte die US-amerikanische Regierung ihren Sprachgebrauch. 1 Der »Krieg gegen den Terror«, eine Erfindung der Ära George W. Bush, verschwand im Giftschrank. Man verwende das Wort nicht mehr, erklärte die neue Außenministerin Hillary Clinton. Stattdessen sprach sie freundlich von Overseas Contingency Operations, von »Krisenfallmaßnahmen in Übersee«. Auch die Enemy Combatants, die »feindlichen Kombattanten« der Bush-Zeit, verschwanden hinter den Kulissen. Als spitzfindige Neuschöpfung hatten sie dazu gedient, Kriegsgefangene der USA der III. Genfer Konvention zu entziehen. Wer als sogenannter Enemy Combatant gefasst wurde, hatte im Gefangenenlager von Guantanamo keine Rechte.
    Die US-Regierung von Präsident Obama beendete den Spuk im Wortumdrehen. Aus dem »Krieg« wurde ein bürokratisches Ungetüm. Denn was die USA im Irak oder in Afghanistan trieben, sollte nun so zivil klingen, dass es sich wie eine Aktion des Roten Kreuzes anhörte. Mit den Worten ändern sich die Gefühle, die Verantwortung und die Suggestionen. Und während die eine Regierung durch ihren kriegerischen Wortgebrauch eine Selbstverteidigungssituation heraufbeschwor, die es in dieser Form nie gab, versteckte die andere Regierung ihre Kriegsführung
unter dem Deckmantel ziviler Maßnahmen. Der englische Dichter George Orwell hatte zu dem einen genauso wenig Zutrauen wie zu dem anderen. »Politische Sprache«, schrieb er 1956, »ist dazu geschaffen, Lügen wahrhaft und Mord respektabel klingen zu lassen.«
    Politiker lügen mit Worten, die den Sinn dessen verschleiern, um was es geht. Jeder Rückzug der deutschen Wehrmacht geriet bei Propagandaminister Joseph Goebbels zu einer »Frontbegradigung«. Die Juden waren »Schädlinge«, die aber nicht vergast wurden, sondern

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