Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
physiologischen und psychischen Balance.
Der Mann, der dies als Erster ausführlich untersuchte, war der US-amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger (1919-1989). Festinger war einer der Pioniere seines Fachs. Als Professor an mehreren führenden US-amerikanischen Universitäten machte er sich einen Ruf und die Sozialpsychologie zu einer anerkannten Wissenschaft.
Seinen Durchbruch erlangte er, als er sich Anfang der 1950er Jahre mit einer Schar von Weltuntergangspropheten befasste. Die selbsternannte Priesterin Marian Keech, die in Wisconsin ihr Unwesen trieb, behauptete, dass die außerirdische Sananda vom Planeten Clarion sie mit geheimen Botschaften versorgte.
Wie alle Weltuntergangsapostel verstieg sich Keech zu der narzisstischen Idee, dass ausgerechnet sie auserwählt sei, eine bevorstehende Apokalypse zu überleben. Eine neue Sintflut würde die Menschheit in Kürze davonspülen. Statt sich die naheliegende Frage zu stellen, warum Sananda sich berufen fühlte, ausgerechnet Mrs Keech zu retten, versammelte sie eine Kolonie von Sektenmitgliedern um sich. Betend und meditierend erwarteten sie das Weltenende und warteten auf Sanandas fliegende Untertassen.
Als die Katastrophe bedauerlicherweise ausblieb, hätte die Sekte eigentlich auseinanderstieben müssen. Doch nun geschah das wahrlich Unfassbare. Statt sich einzugestehen, dass man sich einen Mumpitz hatte einreden lassen, verfiel man in starren Trotz. Die Sektenmitglieder behaupteten nun, dass sie es waren, die den Weltuntergang verhindert hätten. Ihre Gebete seien von Gott erhört worden, worauf dieser beschlossen hatte, die Menschheit noch einmal zu begnadigen.
Festinger stellte sich die Frage, was wohl in den Köpfen der Sektenmitglieder vor sich gegangen war. Wenn Anspruch oder Selbstanspruch auf eine Realität treffen, und es gibt einen schrillen Missklang, ist das für nahezu alle Menschen äußerst unangenehm. Das Wort, das Festinger für diesen Missklang fand, wurde in der Psychologie weltberühmt. Er nannte ihn kognitive Dissonanz. 5
Der Prototyp für eine kognitive Dissonanz ist bereits mehr als zweieinhalbtausend Jahre alt. Es ist die Fabel vom Fuchs und den Trauben des griechischen Dichters Äsop. Der Fuchs möchte zu gerne die Trauben fressen. Doch sosehr er sich auch darum bemüht sie zu erreichen, es gelingt ihm nicht. Die Trauben hängen zu hoch. Der Gefühlszustand des Fuchses ist äußerst unangenehm. Er kriegt nicht, was er will. Und eigentlich müsste er sich nun eingestehen, dass er unfähig ist, sein Ziel zu erreichen, weil er schlicht zu klein ist, nicht hoch genug springen kann und nicht fliegen. In dieser Lage greift der Fuchs zu einer Selbstüberlistung.
Er fängt an, das Ziel seiner Wünsche zu entwerten. Sind die Trauben wirklich so begehrenswert? Nach einiger Zeit ist der Fuchs überzeugt, dass sich die Mühe eigentlich nicht lohnt. Ganz bestimmt sind die Trauben viel zu sauer, als dass man sich anstrengen müsste, sie zu bekommen.
Die Kunst, alles zu entwerten, was wir nicht beherrschen, ist unter Menschen sehr verbreitet. Und sie erleichtert das Selbstbewusstsein ganz beträchtlich. Gemeinhin nämlich sind kognitive Dissonanzen nur schwer zu ertragen. Wir lieben es überhaupt nicht, wenn wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. Wir sind beunruhigt, wenn andere Menschen ein deutlich schlechteres Bild von uns haben als wir selbst. Wir sind frustriert, wenn wir uns eingebildet haben, etwas zu können, und plötzlich feststellen müssen, dass wir uns überschätzen. Und wir wehren uns höchst verärgert, wenn andere uns für dümmer oder moralisch schlechter halten, als wir uns selbst sehen.
In solcher Lage gibt es verschiedene Reaktionsmöglichkeiten. Am nächstliegenden wäre es, ein bestimmtes Verhalten zu ändern oder unser Selbstbild zu korrigieren. Doch genau das tun wir nur sehr selten. Viel lieber lassen wir denjenigen in Ungnade fallen, der unsere kognitive Dissonanz ausgelöst hat. Wer ist eigentlich derjenige, der es wagt, uns zu kritisieren? Ist er tatsächlich »besser« als wir? Was bildet sich dieser Mensch ein?
Ein häufig genanntes Beispiel dafür ist das Rauchen. Wir möchten gerne damit aufhören, weil wir wissen, dass es sehr schädlich für uns ist. Aber wir schaffen es nicht, uns zu überwinden und die Sucht zu besiegen. Ohne Zweifel eine kognitive Dissonanz. Tun und Wissen erzeugen einen Missklang. Was machen wir? Nun, wir können uns sagen, dass es bei uns schon nicht so schlimm
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