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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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stärken, dass sie bekannte Autoren abwerten. Die anderen dagegen erhöhen sich durch ein Lob, das Kennerschaft verraten soll.)
    Das Ärgerliche bei der Moral allerdings scheint zu sein, dass wir gerade auf diesem Gebiet tatsächlich häufiger zu Abwärtsvergleichen neigen als zum Vergleich mit Vorbildern. Was uns beim Sport oder beim Klavierspielen leichtfällt, fällt uns in der Moral viel schwerer. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass bestimmte Talente und Geschicke nur einen kleinen Teil unseres Selbstbildes ausmachen. Wenn wir uns hingegen moralisch infrage stellen, spielen wir eigentlich immer ums Ganze.
    Moralische Vergleiche sind nicht gerade ein Lieblingsgebiet der Sozialpsychologie. Und sie sind vergleichsweise schlecht erforscht. Während es uns beim Sport leichtfällt zuzugeben, dass jemand etwas besser ist, ist dies bei der Moral deutlich schwerer. Viel lieber akzeptieren wir Menschen, die uns so unendlich »gut« erscheinen, dass wir gar nicht erst auf die Idee kommen müssen, ihr Handeln mit dem unseren zu vergleichen. Mutter Teresa und
Mahatma Gandhi stellen unser Selbstbild nicht infrage. Mein Bruder, der meint, dass er moralisch integerer sei als ich, dagegen schon. Wenn man es zynisch betrachtet, könnte man meinen, genau darin läge der psychologische Sinn von »Heiligen« in der katholischen Kirche: Je göttlicher ihre Taten erscheinen, umso weniger haben sie mit den meinen zu tun.
    Ganz normale Menschen verbringen viel Zeit damit, tagtäglich ihr Ego zu stärken. Wir führen uns die Schwächen der anderen zu wie eine heilsame Medizin. Überall lauern Inkonsequenzen, Doppelmoral und niedere Instinkte. Und wir selbst? Wir stabilisieren unser Ego durch einen Pakt. Unter Freunden gehen wir die stillschweigende Verabredung ein, uns nicht wechselseitig moralisch zu verunsichern. Die Frage: »Wie viel Prozent deines Einkommens spendest du eigentlich?«, stellen wir schon deshalb nicht, weil ihre postwendende Antwort lautet: »Wie viel spendest du denn?« Auch die beste Freundschaft quittiert solche Anklagen in der Maske einer Frage mit Missstimmung.
    Wir lassen uns nicht gerne verantwortlich machen. Wer darf uns dazu ermahnen, Geld für den Erhalt von Regenwäldern zu spenden? Wem hören wir zu, wenn er uns vorwirft, zu egoistisch zu sein? Von wem lassen wir uns sagen, dass wir bei der Erziehung unserer Kinder etwas falsch machen? Wer uns ins Gewissen reden will, braucht dafür eine besondere Lizenz, die wir oft genug nicht einmal unseren Ehepartnern ausstellen. Moralisieren ist ein Wort mit unangenehmem Klang. Und der »Moralapostel« ist kein gern gesehener Zeitgenosse.
    Seit den 1990er Jahren schützt uns das Wort »Gutmensch« davor, allzu gut sein zu müssen. Zwar entstand der Begriff schon im Nationalsozialismus als Schimpfwort. Allgemeine Beliebtheit aber gewann er erst, als jüngere Kritiker gegen den moralischen Anspruch der 1968er-Bewegung zu Felde zogen. Mit einem Mal war man alle Sorgen los. Denn wer wollte schon so aufdringlich moralisch und naiv sein wie die »Gutmenschen«? Der Angriff auf die guten Absichten war so fundamental, dass sich die Gegeißelten
noch nicht einmal fragten, ob ihre Kritiker denn nun ihrerseits das Gegenteil, nämlich »Bösmenschen« seien.
    Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der es üblich ist, »die Menschheit« zum Guten zu ermahnen. Aber wer ist das schon, die Menschheit? Trifft es uns selbst, so erinnern wir uns daran, dass wir keine kleinen Kinder mehr sind, die sich erziehen lassen müssen. Von wo aus bezieht der Moralist seine Autorität? Ist er denn tatsächlich ein besserer Mensch als wir? Unsere Vergleichsmaschine im Kopf findet sicher schnell etwas, das ihn entwertet. Und mit der Abwertung des Appellierers verblasst zugleich der Appell.
    Vergleiche sind eine höchst willkürliche Sache. Und sie sind relativ. Wenn wir uns morgens im Spiegel betrachten, vergleichen wir uns nicht (oder doch nur sehr selten) mit unserem Gesicht von vor zehn Jahren. Normalerweise vergleichen wir uns mit unserem Gesicht »in der letzten Zeit«. Nicht anders in der Moral. Auch hier haben wir es bei unseren Vergleichen mit shifting baselines zu tun. Kein Mensch, den ich persönlich kenne, orientiert sich als Anhaltspunkt seiner Taten an Platons Idee des Guten oder am kategorischen Imperativ. Selbst unsere eigenen Maßstäbe aus früherer Zeit sind für uns nicht verpflichtend. Mit Grausen denkt der erfolgreich angepasste Alt-68er an den moralischen Furor

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