Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
nicht so neutral, wie etwa Kant ihn sich erträumte. Stattdessen haben wir es zumeist mit einem bestochenen Staatsanwalt zu tun und einem ziemlich parteiischen Richter. Wie sonst wäre es möglich, dass sich die meisten Angeklagten des Polizeibataillons 101 vor Gericht unschuldig fühlten? Sie waren nicht für ihre Taten verantwortlich gewesen, die anderen hatten ja auch … und außerdem hätten sie sich bei allem bemüht, das Schlimmste zu verhüten. Ein großes Haus an Rechtfertigungen auf einem schmalen Fundament an Moral.
Zu den erstaunlichsten Phänomenen unserer Alltagspsychologie gehört es, dass wir, wenn es hart auf hart kommt, fast nie schuld sind, sondern immer die Umstände. Beurteilen wir hingegen die Taten der anderen, so sind gerade nicht die Umstände schuld, sondern die Personen. Jemand anders ist dumm, weil er nicht gemerkt hat, dass … Er ist ein Stümper, ein Idiot, ein Schwätzer, ein Lügner usw. Wir selbst hingegen sind nichts dergleichen. Wir reagieren nur gelegentlich falsch, weil wir in der Situation nicht anders konnten.
Man sollte es sich allerdings nicht zu leicht machen: All diese
Mechanismen des Verdrängens, Verschiebens und Schönredens haben natürlich auch ihre guten Seiten. Denn wer nicht verdrängen, verschieben und vertagen kann, wird vermutlich schnell an sich selbst und an der Welt irre. Spätestens seit jenen tragischen Momenten, in denen sich unsere Vorfahren in Savanne, Höhle, Wald und Steppe das erste Mal klarwurden, dass sie sterblich waren, entwickelte sich das Verdrängen und Schönreden zu einem Segen. Man legte den verstorbenen Angehörigen nützliche Grabbeigaben hinzu, in der Jungsteinzeit nicht anders als in Ägypten, als ob das Leben nach dem Tod einfach so weiterginge. Die Verdrängung nahm ihren Lauf. Und selbst jene Gesellschaften, die den Glauben an ein Leben nach dem Tod mehr und mehr verlieren, wie die unsere, haben ihre Verdrängung gefunden: Wir reden nicht drüber und versuchen so wenig wie möglich daran zu denken. Oder mit dem Kunsttheoretiker Bazon Brock gesagt: »Der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.«
Verdrängen ist gesund. Und es erspart - zumindest kurzfristig - schlechte Laune. Was würde aus uns werden, wenn wir uns bei jeder Mahlzeit vergegenwärtigten, wie viele Menschen just zur selben Zeit verhungern? Wer könnte noch eine einzige »Tagesschau« beruhigt überstehen, wenn er sich das Elend der gezeigten Kriege tatsächlich ernst und tief vergegenwärtigte? Und wer möchte sich täglich für jede seiner Handlungen ausführlich vor sich selbst rechtfertigen?
»Das gute Gewissen«, meinte einst der Theologe und Urwaldarzt Albert Schweitzer, »ist eine Erfindung des Teufels.« Aber es ist ohne Zweifel eine notwendige Erfindung. Die Frage ist nicht, ob wir uns unser Gewissen schöntrinken dürfen, sondern nur: in welchem Ausmaß und unter welchen Umständen.
Versuchen wir uns zu vergegenwärtigen, was in unserem Gehirn geschieht. Die Arbeit unseres Geistes besteht fortwährend darin, in unseren Gefühlen und Gedanken für Ordnung zu sorgen.
Wir bündeln die Eindrücke und Informationen, die wir aufnehmen. Und wir vereinfachen und vereinheitlichen sie. Bereits unsere Sinne filtern aus Millionen von Daten das für uns Sinnvolle heraus. Nicht anders als bei allen anderen Tieren. Aber im Gegensatz zu den anderen Tieren schaffen wir uns nicht nur ein Weltbild, sondern auch ein Selbstbild. 4 Kein anderes Tier dürfte derart intensiv damit beschäftigt sein, sich selbst aufzuräumen und zu entwirren. Dabei nutzen wir Schemata, die unser Denken erleichtern sollen. Sie sind die Grubenlampen in der Höhle. Mit ihrer Hilfe tasten wir uns vorwärts. Auch die Vorstellung, wer wir selbst sind, ist schematisch. Wir halten uns für intelligent, für gutmütig, für ungeduldig, hilfsbereit und so weiter. Die Adjektive, die wir für uns selbst finden, bündeln die unübersichtlichen Fäden unserer Psyche. Sie helfen uns nicht einfach nur, uns zu beschreiben. Vielmehr tragen sie dazu bei, uns selbst erst zu erfinden.
Was wir bei der Erfindung unseres Selbst am wenigsten vertragen können, sind starke Irritationen. Es tut uns gemeinhin nämlich sehr gut, die Illusion zu haben, uns in- und auswendig zu kennen. Und ebenso wichtig ist es, dass wir, soweit möglich, mit uns selbst im Reinen sind. Unser Gehirn hat ein untrügliches und sehr starkes Bedürfnis nach einer
Weitere Kostenlose Bücher