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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Leben tun, stets bewegen wir uns in einem solchen Rahmen; einem Spiel mit je eigenen Spielregeln. Soziale Systeme sind weitgehend festgelegt. Politik funktioniert anders als Fußball, Wirtschaft anders als Kunst. So lässt sich im Regelfall leicht erkennen, ob ein bestimmtes Verhalten aus Sicht des Systems funktional ist oder dysfunktional. Unser Ehepartner erwartet ein anderes Verhalten von uns als unser Chef. Und die Rolle, die ich gegenüber meinen Kindern spiele, ist nicht die gleiche wie bei einem Vortrag vor Publikum. Meinem Arzt sind meine Einsichten in das Leben egal, meiner Frau nicht. Es wäre nicht klug, all dies durcheinanderzuwerfen.
    Unser Broker an der Börse in New York etwa ist darauf programmiert, Gewinne zu erzielen. Aus der Sicht des Finanzsystems ein völlig normales und funktionales Verhalten. Was er über die Kinderarbeit in Ghana und an der Elfenbeinküste denkt, geht das System nichts an. Seine moralischen Ansichten sind Teil seines persönlichen Systems, nicht seines Berufs. Soll er doch mit seiner Frau, den Kindern und Freunden darüber reden. An seinem Arbeitsplatz haben seine Maximen und Reflexionen über Kinderarbeit keinen Ort: strukturell nicht und wohl auch nicht psychologisch. Mit dem US-amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair (1878-1968) gesagt: »Es ist schwierig, einem Menschen etwas begreiflich zu machen, wenn sein Gehalt darauf beruht, es nicht zu begreifen.« 2
    Mit seiner Systemtheorie brachte Parsons die Soziologie enorm voran. Obwohl seine vielen Schemata und Tabellierungen wohl auch für ihn selbst verwirrend waren, war er der bedeutendste Soziologe in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Und doch, so darf man vermuten, wäre er heute nicht mehr als ein Dinosaurier seines Fachs, wenn - ja, wenn nicht ein deutscher Verwaltungsbeamter aus Lüneburg 1960 für ein Jahr zu seinen Gasthörern in Harvard gezählt hätte. Parsons hatte gerade mit seinem jungen Assistenten Neil Smelser ein Buch über das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft geschrieben (Economy
and Society). Die grundsätzliche Frage aber erschien gleichwohl ungelöst: Wenn es zutrifft, dass die Wirtschaft ein eigenständiges System mit völlig eigenen Spielregeln ist, auf welche Weise wird sie dann überhaupt von der Gesellschaft beeinflusst? Wie geschieht der Austausch?
    Der Verwaltungsbeamte war Niklas Luhmann (1927-1998). Ein Stipendium hatte ihn nach Harvard geführt, nachdem er sich zuvor ohne erkennbaren öffentlichen Ehrgeiz ein enormes Wissen angelesen hatte. Nach Deutschland zurückgekehrt, baute Luhmann Parsons’ System grundlegend um. Für ihn entstanden soziale Systeme wie Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Wissenschaft und so weiter nicht, wie bei Parsons, durch Handlungen. Luhmann erklärte, wie soziale Systeme sich durch Austausch (Kommunikation) bilden, sich aneinander anschließen und ihre eigenen Regeln hervorbringen. 3 Um dies zu ermöglichen, brauchen die Systeme Symbole. Diese Symbole spielen die Rolle von Vermittlern (Medien), die den Austausch in Gang halten. Ein solches Medium ist im Wirtschaftssystem das Geld, in der Wissenschaft die Wahrheit, in der Politik die Macht, in der Religion der Glaube und so weiter.
    Anders als bei Parsons spielt der einzelne Mensch bei Luhmann überhaupt keine Rolle mehr. Nicht Personen handeln, sondern Systeme funktionieren. Sie bewerten das, was in ihnen geschieht, danach, ob es akzeptabel ist oder nicht. In der Wirtschaft ist akzeptiert, was mir (berechtigterweise) zugeteilt ist, durch Kauf, Erbe, Gewinn, Besitz und so weiter. Im Rechtssystem ist akzeptiert, was Recht ist. Im Wissenschaftssystem gilt das, was wahr ist (oder zu sein scheint). Und in der Kunst gilt das Schöne im Gegensatz zum Hässlichen. Die Gültigkeit solcher Codes sorgt dafür, dass sich das jeweilige System fein unterteilt und auch tatsächlich Regeln ausbilden kann, nach denen es funktioniert.
    Als Luhmann 1998 nach dreißigjähriger Lehrtätigkeit an der Universität Bielefeld starb, war er der weltweit bedeutendste Soziologe
seiner Generation. Er hatte gezeigt, warum unsere sozialen Systeme so funktionieren, wie sie funktionieren. Statt einer »ganzheitlichen« Gesellschaft haben wir es immer nur mit Perspektiven auf die Gesellschaft zu tun. Und statt einer »ganzheitlichen« Moral immer nur mit Perspektiven auf die Moral. Genau dies unterscheidet eine moderne funktional differenzierte Gesellschaft von einem Totalsystem wie etwa dem christlichen Mittelalter. Heute dagegen gibt

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