Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
verzeihen wir unseren Feinden fast nichts. Wir orientieren uns dabei nicht an einem »objektiven« Erkenntnisstand, sondern an Charakterbildern, die wir uns voneinander zurechtlegen. Unser Freundeskreis sieht uns anders als unsere Arbeitskollegen oder unsere Nachbarn. »Die jeweils begrenzten Kenntnisse anderer über unser Verhalten« stapeln sich dabei kaum zu einem Gesamtbild, »sie fließen selten in einer Hand zusammen. Die Gefahr einer Gesamtbilanz ist ziemlich gering.« 10 Mit anderen Worten: Da die Gefahr klein ist, dass andere Menschen uns je in unserer Gesamtheit kennenlernen und durchschauen, können wir verschiedene moralische Rollen spielen. Und je arbeitsteiliger und komplizierter eine Gesellschaft sich zergliedert, umso mehr Widersprüche können wir uns leisten.
• Der Broker, der Kakao und die Kinder in Ghana. Warum wir nie zuständig sind
Der Broker, der Kakao und die Kinder in Ghana
Warum wir nie zuständig sind
Meinen Stiefsohn Matthieu beschäftigt eine Frage. Bei seinem Aufenthalt in einer Sprachschule in Cambridge zeigte die Lehrerin ihren Studenten eine BBC-Dokumentation über den Anbau und den Handel mit Kakao. Das Gezeigte hinterließ seine Wirkung. Mehr als zweieinhalb Millionen Kinder im Alter zwischen fünf und sieben Jahren arbeiten allein in Ghana auf den Kakaoplantagen unter zum Teil entsetzlichen Bedingungen. Das westafrikanische Land ist der zweitgrößte Kakaoproduzent der Welt. Schon früh angelernt, vergiften sich die Kinder mit Pestiziden. Ihre kleinen Körper werden mit großen Lasten beladen, sie erleiden Verletzungen und Wachstumsdeformationen. Das große Geschäft aber machen andere. Westliche Herstellerfirmen verdienen Millionen. Das nächste Bild: Ein New Yorker Broker erklärt lächelnd seine phantastischen Gewinne. Bis zu achtzig Dollar in der Minute bringt ihm die Spekulation mit der braunen Bohne. Die Reporter weisen ihn auf die Kinderarbeit in Ghana hin. Berührt ihn das denn gar nicht? Die Miene des Brokers verändert sich. Ein ernster Blick, eine traurige Grimasse. Ja, spricht er be trübt in die Kamera, persönlich stimme ihn das natürlich sehr traurig. Geschäftlich hingegen, fügt er hinzu, könne er sich solche Sentimentalitäten aber nicht leisten.
Wir sitzen im Garten in Luxemburg. Schwalben zersicheln die Luft, ein phantastischer warmer Abend, der Kirschbaum voll von weißem Blütenschnee. Ein Sommertag verirrt in den April,
weit weg von Ghana, weit weg von New York. Matthieu wird bald für lange nach England gehen, um Wirtschaft zu studieren. Er greift zum Weinglas: »Was denkst du darüber? Was würdest du an der Stelle des Brokers machen?«
Die Antwort ist nicht leicht. Vielleicht muss man dafür ein bisschen weiter ausholen. Denn wie ist das eigentlich passiert? Wie kommt es, dass wir, ohne zerrissen zu sein, in zwei völlig getrennten Welten leben können? In der Welt unserer persönlichen Belange und Empfindungen und in einer Welt des Berufs, der Wirtschaftskreisläufe und Marktgesetze. Und wie schaffen wir es eigentlich, zwei einander widersprechende Dinge so im Bewusstsein zu speichern, dass sie dort nicht zusammentreffen? Denn ganz offensichtlich erlebt der Broker nicht einmal eine »kognitive Dissonanz«. Sein Selbstbild bewegte sich ohne Schuld und Reue in einer gespaltenen Welt.
Um zu verstehen, was das bedeutet, müssen wir zurückgehen. In die USA, in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. 1951 veröffentlichte der US-amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1902-1979) ein Buch mit dem Titel The Social System. 1 Er entfaltete darin eine neue revolutionäre Idee. Parsons stellte fest, dass man Gesellschaften in der Moderne nicht mehr so beschreiben könne, als seien es einfache Hierarchien. Oben und unten, Adel, Klerus, Bürger und Arbeiter seien in keiner Weise mehr taugliche Begriffe für das 20. Jahrhundert. Die modernen Gesellschaften seien nicht nach Schichten sortiert. Sie sortierten sich nach Funktionen: Gottesdienste abhalten, Recht sprechen, Geld verleihen, Kinder unterrichten, Patienten versorgen oder Bilder malen. Jeder dieser verschiedenen Kontexte, in denen jemand etwas tut, bildet eine besondere Struktur aus. Bilanzen zum Beispiel haben einen festen Ort auf einer Aktionärsversammlung, Liebesgedichte eher nicht. Auf diese Weise zerfallen moderne Gesellschaften in ziemlich unabhängige Systeme.
Die meisten dieser Systeme sind relativ stabil. Es gibt feste Strukturen, die sich wechselseitig verstärken. Was auch immer
wir im
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