Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
es nicht einmal ein eigenes Teilsystem namens »Moral« in der Gesellschaft. Moral kann eine gesellschaftliche Waffe sein, indem man jemanden moralisch diskreditiert. Oder sie ist eine ganz persönliche Sache, eine Frage psychischen Anstandes. Doch für das Funktionieren von Wirtschaft, Politik, Recht und so weiter ist Moral völlig irrelevant.
Die Verbindlichkeit eines Wirtschaftssystems wird durch die Spielregeln von Besitz, Tausch oder Geld hergestellt, nicht aber durch eine wie auch immer geartete Moral. Ob mein Arzt, mein Lehrer oder mein Bankberater »gute« Menschen sind, ist für ihre Rolle völlig egal. Ob nun im System des Rechts, der Wirtschaft, der Erziehung, der Gesundheit oder der Kunst - niemand wird deshalb besser bezahlt, weil er ein guter Mensch ist. Luhmann geht sogar so weit, die Aufgabe der Moralphilosophie darin zu sehen, »vor Moral zu warnen«. Je mehr Moral wir für unsere Gesellschaft einfordern, umso unzulässiger die Einmischung. Und umso empfindlicher würde das Funktionieren der Systeme gestört. 4
Dass Luhmann mit dieser Pointe weit über das Ziel hinausschießt, steht außer Frage. Nur eingefleischte Luhmann-Fans mögen der These zustimmen, dass es die Aufgabe der Philosophie sei, darauf zu achten, dass niemand moralisiert. Der Grund für diese Polemik in der Maske einer soziologischen Schlussfolgerung ist leicht benannt. Luhmann hatte seine Systemtheorie in Deutschland gegen die Gesellschaftstheorie des Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas (*1929) durchsetzen müssen. Anders als Luhmann aber hatte Habermas seine Theorie von
Anfang an mit einem moralischen Anspruch verknüpft. Einfach gesagt: Er wollte die Gesellschaft nicht nur erklären, sondern zugleich ein bisschen besser machen. Genau dagegen wendete sich Luhmanns Zynismus. 5 Die Soziologie mit Moral zu impfen, so sah es Luhmann, sei in etwa so aufrichtig und redlich wie Doping im Sport.
Wir müssen die Frage an dieser Stelle nicht entscheiden. Kommen wir lieber zurück auf unseren Broker. Von Luhmann können wir lernen, dass er in seinem Beruf für Moral definitiv nicht zuständig ist. Sollte er sich aus persönlichen Gründen dennoch dazu entscheiden, den gutbezahlten Job hinzuschmeißen, weil er ihn moralisch nicht mehr vertreten kann, so werden sich seine Kollegen sehr freuen. Sehr schnell wird sich jemand anders finden, der zu gern bereit ist, die achtzig Dollar pro Minute mit den Kakaobohnen zu verdienen. Und sollte sich - was völlig utopisch ist - tatsächlich niemand finden, der noch an der Börse mit Kakao handelt, so bräche der ganze Markt zusammen. Und in Ghana gäbe es eine Hungersnot.
Unsere moderne Lebenswelt konfrontiert uns in der Moral mit mindestens zwei Fragen. Die erste lautet: »Warum soll gerade ich etwas dafür tun, die Welt besser zu machen?« Und die zweite ist: »Kann ich, selbst wenn ich wollte, tatsächlich etwas ausrichten?« Sind die wohlfeilen Empfehlungen, dass jeder von uns das Seine dazu beitragen kann, das Leben auf diesem Planeten besser zu machen, letztlich nicht dumme Sprüche? In Wildbeutergesellschaften oder unter Schafzüchtern mögen solche Aufforderungen vielleicht sinnvoll sein. Aber in einer funktional differenzierten Gesellschaft erscheinen diese schlichten Rezepte als hoffnungslos unterkomplex.
Führen wir uns unser heutiges Leben nochmals vor Augen: Wir »zerfallen« in lauter unterschiedliche Rollen. Bereits mein Wikipedia-Eintrag zergliedert mich in lauter verschiedene Kategorien: »Autor, Literatur (20. Jahrhundert), Literatur (21. Jahrhundert), Literatur (Deutsch), Roman, Epik, Autobiographie,
Wissenschaftliche Prosa, Essay, Kolumnist, Publizist, Person (Solingen), Deutscher, Geboren 1964, Mann.« Und das ist natürlich nur eine sehr verengte Auswahl. Als »Mann« stehe ich in dieser Welt vor ganz anderen Nöten und Notwendigkeiten denn als »Kolumnist«. Und meine Kinder nehmen mich anders wahr als meine Freunde oder die Leute in einem Schwimmbad.
Die Zugehörigkeit zu mehreren sozialen Rollen erleichtert es mir beträchtlich, für das Große und Ganze dieser Welt nicht verantwortlich zu sein. Verantwortlich - das sind immer die anderen. Die Politiker zum Beispiel oder die Wirtschaftsbosse. Bedauerlicherweise zerfallen auch sie in lauter kleine Rollen. Und von Berufs wegen sind auch sie nicht dem großen Ganzen verantwortlich, sondern ihrer Wiederwahl beziehungsweise dem Gewinn ihres Konzerns.
Darüber hinaus leben wir in einer Welt, die so komplex ist, dass wir
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