Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
ständig Dinge erfahren, die uns nicht unmittelbar betreffen. Auch das mag in der Savanne oder in der Jungsteinzeit anders gewesen sein. Heute jedenfalls müssen wir die Fülle von Nachrichten und Informationen ständig filtern, um uns nicht mit einer Unmenge an Überflüssigem zu belasten. Die eigentliche menschliche Tätigkeit, so sah es Luhmann, ist das ständige »Reduzieren von Komplexität«. Dabei schweifen unsere Gedanken fortwährend ab. Wie Csíkszentmihályi gezeigt hat, verbringen wir viel Zeit damit, in Gedanken »woanders« zu sein. Unsere Gehirne leben durchaus nicht immer im »Hier und Jetzt«, sondern sie machen uns routiniert zu abwesenden Anwesenden. Unser Zeitempfinden ist dadurch immer höchst subjektiv. Es hängt davon ab, worauf wir uns gerade konzentrieren. Wir »haben keine« Zeit, spüren, dass die Zeit »nicht vergeht«, »nehmen uns« für etwas Zeit oder nicht, »schenken« jemandem Zeit und lassen uns ungern die Zeit »stehlen«. Und manchmal »schlagen« wir die arme Zeit einfach »tot«.
Verschieben und Verdrängen sind sehr menschliche Tätigkeiten. Sie gehören untrennbar zu unserem Leben dazu. Denn ganz
im Hier und Jetzt leben kann eigentlich keiner, selbst wenn er es sich noch so fest vornimmt. Wir leben oft mehr in der Vergangenheit und in der Zukunft als in der Gegenwart. Und wir sind ganz bestimmt nicht darauf geeicht, in moralischen Fragen immer und überall aufmerksam zu sein. Auch unser Sinn für Moral und Verantwortung ist manchmal wach und manchmal ausgeschaltet, und zwar abhängig von unserer Erwartungshaltung. Wenn wir ein moralisches Problem erwarten, gehen wir viel sorgfältiger vor, als wenn wir im Alltag plötzlich überraschend damit konfrontiert sind. Fast alle Menschen halten es für geboten und richtig, einem Mitreisenden zu helfen, der von einem anderen in der U-Bahn überfallen oder verprügelt wird. Aber wie wir wissen, schreiten nur die wenigsten ein. Wir blockieren aus Angst und Überforderung. Viele ducken sich weg. Und das, obwohl wir Wegducken prinzipiell für falsch halten.
Um Verantwortlichkeit zu spüren, muss eine ganze Reihe von Kriterien erfüllt sein. Zunächst einmal müssen wir jemanden, dem wir vielleicht helfen sollten, überhaupt wahrnehmen. Zweitens müssen wir uns insoweit in ihn hineinversetzen, dass uns klar wird: Er braucht Hilfe. Dann müssen wir uns zuständig fühlen. Der andere braucht nicht nur Hilfe - er braucht meine Hilfe. Und … Moment, muss ich nicht dringend den Zug erreichen? Und wenn ich ihn nicht rechtzeitig kriege, verpasse ich meinen Arzttermin …
Unser Mitgefühl ist eine begrenzte Ressource, mit der wir gemeinhin sehr zögerlich umgehen. Das Gleiche gilt auch für unsere Selbstaufmerksamkeit und unsere Selbstkontrolle. All dies verbraucht so viel Energie, dass wir sie häufig nur im Stand-by laufen lassen. 6 Und je größer der Stress ist, in dem wir uns befinden, umso weniger Zeit bleibt für Mitgefühl und Selbstaufmerksamkeit. Statt fürsorglich zu sein, sind wir gereizt. Und statt uns Gedanken darüber zu machen, wie wir auf andere wirken, benehmen wir uns daneben. Und wer pausenlos Entscheidungen fällen muss, hat besonders wenig Zeit, über sich selbst nachzudenken
- weshalb Spitzenpolitiker schon von Amts wegen nicht moralischer sein können als ihre Wähler. Erst als Expräsidenten und Altbundeskanzler kommen sie in dieser Hinsicht zu sich. Moralische Betrachtungen kann man nicht im Stress anstellen, sondern leichter beim Tee oder Wein in der Bibliothek oder am Strand bei Sonnenuntergang. Und je weiter man sich aus einem System entfernt, in dem man funktionieren muss, umso leichter lässt es sich moralisieren. Die Vorsilben Ex- und Alt- erleichtern dieses Geschäft beträchtlich.
Zu unserem normalen Leben in heutiger Zeit gehört es, nicht zuständig zu sein. Wenn uns etwas berührt, dann zumeist nur, wenn wir es unmittelbar sinnlich spüren. Und häufig tun wir auch nur dann etwas, wenn wir sehen oder spüren, dass andere auch etwas tun. Unsere gefühlte Zuständigkeit ist abhängig von der Sinnlichkeit und der Gruppenmoral. Wenn ein Freund von uns eine Party veranstaltet und dabei Geld für einen wohltätigen Zweck sammelt, sind wir dabei. Von alleine aber hätten wir wahrscheinlich nicht gespendet.
Diese Erkenntnis ist natürlich nicht neu. Bezeichnenderweise entstand sie nahezu parallel in der Sozialpsychologie und in der Biologie. Während Parsons sich in Harvard mit der Frage herumschlug, in wie viele
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