Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Teilsysteme menschliches Handeln zerfällt, bastelte zur gleichen Zeit ein Naturwissenschaftler an einer ähnlichen Theorie für die Biologie.
George R. Price (1922-1975) war einer der schillerndsten Paradiesvögel in der Biologie des 20. Jahrhunderts. Der Sohn eines Elektrikers und einer Opernsängerin hatte in Chicago Chemie studiert. Schon mit Anfang zwanzig arbeitete er mit am Manhattan-Projekt zum Bau der US-amerikanischen Atombombe. Er forschte über Kernreaktoren und über medizinische Probleme, unter anderem zur Therapie von Leberschäden. Anfang der 1960er ging er zu IBM und kümmerte sich um neue graphische Datenverarbeitungssysteme. Schon jetzt zerfiel sein Profil in einen Chemiker, einen Kernphysiker, einen Mediziner und einen
Informatiker. 1966 erhielt er die Diagnose, an Krebs erkrankt zu sein. Die Entfernung des Tumors lähmte seine Schulter. Mit 45 Jahren ging er nach England, um ein neues Leben anzufangen.
Seine neue Passion wurde die Biologie. Price las die Veröffentlichungen von Bill Hamilton und studierte dessen Theorie der Gesamtfitness (vgl. Das Tier, das weinen kann. Die Natur der Psychologie). Sofort ging er daran, die Theorie mathematisch exakter und soziologisch wahrscheinlich zu machen. Die Evolution, so Price, musste Parsons’ Gedanken Rechnung tragen, dass jede Gemeinschaft von Lebewesen in Teilsysteme zerfällt. Wenn man etwa erklären wollte, warum Lebewesen altruistisch handelten, reichte Hamiltons Gesetz der Verwandtschaft nicht aus. Menschen handeln auch dann mitunter altruistisch, wenn sie nicht miteinander verwandt sind. Price korrigierte Hamiltons Vorstellung, indem er ein neues Kriterium einführte: Nicht allein auf die Blutsverwandtschaft kommt es an, sondern auch auf den Zusammenhalt. Auch andere Lebewesen bilden demnach Systeme. Und sie handeln dann altruistisch, wenn sie in möglichst homogenen Gruppen leben. Je homogener die Gemeinschaft, umso lohnender der Altruismus. Und besonders altruistische Lebewesen, so vermutete Price, bringen auch altruistische Nachkommen hervor.
Nach drei Jahren in der Biologie glaubte Price ihr wichtigstes Problem gelöst zu haben. Mit 48 hatte er ein Erweckungserlebnis und wurde gläubiger Christ. Mit dem ihm eigentümlichen Furor korrigierte er einige Zeitangaben der Bibel. So versuchte er logisch nachzuweisen, dass die Ereignisse um Jesus’ Tod in den Ostertagen deutlich länger gedauert haben müssen und die Bibel die Tage falsch zählte. Danach beschloss er, vor allem eines zu werden: ein guter Mensch. Sein Haus in London wurde zum Asyl für Obdachlose; Price selbst schlief meistens im Büro. 1975 schlitzte er sich mit einer Nagelschere die Kehle auf.
Price’ Leistung war es, die Gruppenmoral neu in der Biologie zu verankern. Danach war Altruismus nicht die Folge von Verwandtschaft,
sondern Verwandtschaft allenfalls die Folge von Altruismus. Wenn Lebewesen, die sich untereinander gut verstehen, Nachkommen miteinander bekommen, so lebt der Altruismus genetisch und kulturell weiter fort. Gegenüber Hamilton war dies ohne Zweifel eine Verbesserung. Ob sie allerdings von jener mathematischen Präzision ist, wie Price glaubte, sei dahingestellt.
Die richtige Pointe daran ist: Homogene Gruppen bilden einen stärkeren moralischen Zusammenhalt aus als weniger homogene. Bezeichnenderweise gilt dies ebenso für Familien und Vereine wie für die Mafia. Was Greenpeace zusammenhält, macht auch die Unterwelt erfolgreich. Denn je stärker ich in einen sozialen Verbund integriert bin, umso größer wird meine Zuständigkeit und Verantwortung. Selbst wenn es richtig ist, dass die Systeme der Wirtschaft, der Politik, des Rechts, der Erziehung und so weiter für ihr Funktionieren keine Moral brauchen, so bildet sie gleichwohl so etwas wie einen sozialen Kitt. In diesem Punkt war Luhmann notorisch blind, weil er die Moral unter allen Umständen aus seinem System entfernen wollte. 7 Auch für den Fall unseres Brokers ergeben sich daraus Konsequenzen und vielleicht sogar ein Lösungsansatz für sein Dilemma. Diesen Lösungsansatz werden wir uns im 3. Teil genauer ansehen.
Die meisten Menschen leben Anfang des 21. Jahrhunderts in funktional differenzierten Gesellschaften. Wichtig für ein System ist nur, was zum Funktionieren eines Systems beiträgt. Unsere sozialen Systeme sind dadurch nicht mehr in erster Linie moralische Systeme. Unser persönliches Moralempfinden und unser berufsmäßiges Handeln finden nur noch schwer zueinander. Vielmehr finden
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