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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Entlohnung zu tun, der tut sich anschließend sehr schwer damit, bei gleichen Handlungen ohne sie auszukommen. Ganz offensichtlich ist die Verbindung von Hilfsbereitschaft und materieller Belohnung nicht von Natur aus in unserem Gehirn angelegt. Stattdessen werden wir in unserer Kindheit darauf konditioniert, so dass unser Gehirn diese Verbindung neu anlegt. Ist sie aber einmal da, so bildet sie einen nahezu automatischen Reflex. Mit anderen Worten: Wir werden nicht als Egoisten geboren - wir werden dazu gemacht.
    Diese Erkenntnis hat etwas zutiefst Verstörendes. Denn beruht nicht unser ganzes Wirtschaftssystem auf einem solchen Tauschhandel? Wofür gehen wir denn morgens zur Arbeit, wenn nicht für materielle Belohnungen? Das Spielzeug aber, das den Kindern die Motivation zum Helfen und Arbeiten gibt und nimmt, ist für Jugendliche und Erwachsene das Geld.
    Geld verändert den Charakter und unsere Gesellschaft. Aber wie und in welche Richtung? Der Mann, der wie kein Zweiter die Psychologie des Tauschs und die Wirkung des Geldes auf unsere Psyche und Gesellschaft untersuchte, war Georg Simmel. Wie gesehen, gehörte er zu den klugen Begründern einer »Moralwissenschaft« (vgl . Soziales Schach. Wie viel Egoismus steckt im Menschen). Sieben Jahre nach seinem Buch über die Moral veröffentlichte er im Jahr 1900 seine umfangreiche Philosophie des Geldes. 5
    Wie Sigmund Freuds gleichzeitig erschienene Traumdeutung war es ein prophetisches Buch mit weitreichendem Blick in das kommende Jahrhundert. Und ähnlich wie Freuds erstes Hauptwerk zur Psychoanalyse war es ein brillantes Werk, wie es wohl nur ein wissenschaftlicher Außenseiter schreiben konnte. Bescheiden formuliert, strotzt das Buch vor Ehrgeiz. Denn Simmel
begriff die Philosophie als die Kunst, das Wissen der anderen Wissenschaften besser zu verstehen und zu interpretieren als diese selbst. Auf diese Weise wurde die Philosophie des Geldes das vielleicht bedeutendste ökonomische Werk deutscher Sprache neben Karl Marx’ Kapital.
    Simmels Fragestellung war völlig neu. Er wollte den psychologischen Einfluss des Geldes auf uns und unsere Kultur verstehen. Und umgekehrt den Einfluss der Kultur auf die psychologische Bedeutung des Geldes. 6 Es ging ihm darum, die wirtschaftlichpsychologischen Rückkoppelungseffekte zu beschreiben, die unser Leben ausmachen.
    Wie nicht weiter verwunderlich, war Simmels Buch ein Werk, das die Ökonomen seiner Zeit sowohl irritierte wie überforderte (das gilt sicher auch für manche heutige Vertreter des Fachs). Ihre Einwände standen bereits fest, bevor sie auch nur die Einleitung zu Ende gelesen hatten. Erstens war Simmel kein studierter Volkswirtschaftler. Zweitens ist das Buch in einer ziemlich schwierigen Sprache geschrieben. Und drittens war die Ökonomie gerade dabei, jeden Verdacht, »philosophisch« zu sein, loszuwerden. Ihre Forschung sollte so objektiv wie möglich erscheinen: durch mathematische Formeln und Kurven, Statistiken und empirische Forschung.
    Nichts davon findet sich in Simmels Buch. Was dem Verfasser der Philosophie des Geldes vorschwebte, war etwas sehr viel Progressiveres: eine Verhaltensökonomik oder Wirtschaftspsychologie, wie sie vor etwa dreißig Jahren wieder neu erfunden wurde und heute schwer en vogue ist. Doch im Gegensatz zu Bruno Frey, Ernst Fehr, Dan Ariely oder Daniel Kahneman, den heutigen Stars der Zunft, machte Simmel keine Experimente. Es ging ihm um etwas anderes. Er wollte die kulturelle und moralische Veränderung unserer modernen Welt durch den psychologischen Einfluss des Geldes verstehen und erklären. Während heutige Wirtschaftspsychologen mehrheitlich Mikroökonomen sind, bezog Simmel seine auf Mikroebene belauschten Erkenntnisse
immer auf die Makroökonomie. Und die Makroökonomie ihrerseits war für ihn nur beschreibbar, indem man sie als einen Teil unserer Kultur verstand.
    Simmels Ausgangspunkt ist die Veränderung des Lebens im Zeichen des Geldes im 19. Jahrhundert. Wo früher soziale Unterschiede, Traditionen, Milieus, Glaube, Standesdünkel, Zunftdenken und dergleichen die Spielregeln vorgaben, herrscht heute (also um 1900) eine alles kalkulierende Rationalität des Geldes. Wenn man dies liest, so ist man fast geneigt, noch einmal nachzuschauen, ob Simmel tatsächlich das Westeuropa des Jahres 1900 und nicht das des Jahres 2000 beschreibt. Die Qualität unseres Lebens wird in Geld gemessen, wie die Zeit mit der Uhr. Den Wert, den die Dinge für uns haben, schreiben wir ihnen

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